Kapitel 2: Reise nach Dareth

Die Sonne kroch langsam über den Horizont, als Iblis und Rosemary den staubigen Weg nach Osten betraten. Ihre Schatten lagen lang und verzerrt auf dem zerfurchten Boden – wie Mahnmale einer Schuld, die keiner von beiden aussprach.

Der Wind trug den Geruch von altem Blut und vertrocknetem Gras mit sich. Die Felder, durch die sie wanderten, waren unbestellt, von schwarzen Krähen heimgesucht. Iblis schwieg wie immer, doch seine Blicke ruhten immer wieder auf dem Mädchen neben ihm – auf ihrer Haltung, ihren Bewegungen, ihrer Atmung. Er bemerkte, dass sie das Schwert mit der linken Hand trug, obwohl ihre Muskeln rechts stärker waren. Dass sie bei jedem Knacken eines Zweigs leicht zusammenzuckte. Dass ihr Atem ruhig wirkte, aber in unregelmäßigen Abständen stockte – genau dann, wenn ein Schatten zwischen den Bäumen aufflackerte.

Angst. Aber unterdrückte Angst.

Ihre Stimme hatte er nun oft genug gehört, um zu wissen, dass sie ihre Worte vorsichtig wählte – nicht aus Klugheit, sondern aus ständiger Angst, das Falsche zu sagen. Ihre Augen – diese aschgraue Leere – waren keine normale Augenfarbe. Sie waren Ausdruck einer Seele, die zerbrochen war und trotzdem weitermachte. Und genau das machte sie für ihn wertvoll.

> „Dareth. Das ist unser Ziel,“ sagte Iblis nach langem Schweigen.

Rosemary blickte auf. Am Horizont zeichnete sich eine massive, holzummauerte Siedlung ab – größer als jedes Dorf, das sie je gesehen hatte. Patrouillen ritten auf Sklaven, nicht auf Pferden. Der Rauch über dem Dorf stieg nicht aus Kaminen, sondern aus Verbrennungsgruben.

> „Ein Ort, wo alles einen Preis hat. Und nichts einen Wert.“

Dareth war jung – kaum ein Jahrhundert alt – und doch war es ein Machtzentrum. Es hatte mehr Reichtum, mehr Einfluss und bessere Infrastruktur als ein Drittel aller bekannten Dörfer. Der Grund war klar: Sklaven. Billige, gebrochene, aber spezialisierte Arbeitskräfte. Sie zogen Wasser, schürften Erz, züchteten Waffen, nähten Stoffe, heilten Wunden – und bluteten für Domira.

Domira – die Herrin der Niedrigen. Eine Frau, deren eiserne Hand das Dorf mit fester Faust führte. Sie war nicht grausam aus Lust, sondern aus Prinzip. Wer Schwäche zeigte, wurde ersetzt. Wer stärker war als sie, wurde getötet. Iblis kannte sie. Persönlich.

Im Dorf führte Iblis Rosemary durch die Hauptstraße. Er zeigte ihr die wahren Gesichter von Dareth: Kinder, die wie Vieh in Käfigen gehalten wurden. Alte Männer, die um ihr Augenlicht betrogen wurden, damit sie sich nie wieder erinnern konnten. Frauen, die nur noch stumm atmeten. Und Krieger – gebrochene Soldaten, die sich selbst geißelten, um Gefühle zu spüren.

Rosemary wollte sich abwenden – aber Iblis hinderte sie daran.

> „Wenn du schwach bleibst, wirst du nur Opfer werden. Du musst das sehen. Du musst begreifen, dass die Welt dich verschlingt, wenn du nicht lernst, sie zu beißen.“

Er führte sie am Abend hinaus – weg vom Lärm, in eine Ebene, wo hohes Gras im Wind flüsterte. Der Himmel war schwarz wie Öl, doch plötzlich… begannen kleine Lichter zu tanzen. Glühende Insekten, Lichtfunken, die die Dunkelheit durchbrachen.

> „Siehst du das?“ flüsterte Iblis.

„Sie leuchten nur in der tiefsten Dunkelheit.“

Er stieß sie leicht ins Gras. Die Lichter umgaben sie – warm, flüchtig, lebendig. Rosemary vergaß für einen Moment, dass sie einmal gezittert hatte.

> „Diese Welt ist nicht gerecht. Aber sie lebt. Und das ist Grund genug, weiterzugehen.“

Nach dem Spaziergang unter den leuchtenden Insekten führte Iblis Rosemary zurück in das Dorf. Die Nacht war tiefschwarz geworden, nur wenige Fackeln brannten an den Straßenpfählen. Die Menschen hielten sich versteckt – denn jeder wusste, dass Iblis nun unterwegs war.

Sie erreichten die steinerne Residenz am oberen Ende Dareths – ein mehrstöckiger Bau aus schwarzem Gestein, durchzogen von silbernen Adern, die im Licht schimmerten. Die Tür war nicht verschlossen. Iblis trat ein, ohne anzuklopfen. Rosemary folgte zögerlich, unsicher, ob sie überhaupt dorthin gehören durfte.

In der Halle wartete sie bereits.

Domira. Die Herrin der Niedrigen.

Eine Frau mittleren Alters mit glattem, schwarzem Haar, das wie Öl glänzte. Ihre Augen waren eisblau – fast weiß. Ihre Kleidung schlicht, aber jedes Stück daran war aus der feinsten Sklavenseide gefertigt. Sie saß nicht auf einem Thron, sondern auf einem schlichten Stuhl. Aber es fühlte sich an wie ein Thron.

> „Iblis“, sagte sie trocken. „Wie viele Jahre ist es her? Fünfzehn? Zwanzig?“

„Dreizehn“, antwortete er.

„Ah. Und wieder kommst du, als würde dir alles gehören.“

Iblis ging langsam auf sie zu. Rosemary konnte spüren, wie sich die Luft im Raum veränderte – schwer wurde, wie mit dunklem Rauch gefüllt. Domiras Hand näherte sich der Waffe an ihrer Seite, doch Iblis blieb ruhig.

> „Ich werde eine Weile hier bleiben. Ich brauche deine Unterkunft. Und deinen Schweigeschwur.“

„Du kannst nicht einfach—“

Er blieb stehen. Keine Bewegung, keine Drohung. Nur sein Blick.

Doch aus diesem Blick stieg etwas auf. Etwas Kaltes. Fremdes.

Ein Hauch von Mordlust – nicht wild, nicht hitzig, sondern absolut kontrolliert.

Domiras Finger zitterten nur einen Moment. Ein Moment zu viel.

> „Du hast das Recht verwirkt, mir zu widersprechen“, sagte Iblis leise.

„Ich nehme nichts. Ich kündige nur an.“

Domira schwieg. Dann – ein Schnauben. Sie stand auf, langsam.

> „Du warst schon immer ein Bastard, Iblis. Aber ich bin nicht dumm genug, dir den Einlass zu verwehren.“

„Ein Zimmer über dem alten Archiv. Die Kleine darf das Bett haben.“

Sie sah zu Rosemary. „Hoffen wir, dass sie es wert ist.“

Iblis nickte nur. Dann wandte er sich ab – und führte Rosemary schweigend durch einen Seitengang in das zugewiesene Quartier. Eine einfache Kammer mit Steinboden, einem Strohbett und einem winzigen Fenster, das auf eine leere Gasse hinausging.

> „Schlaf“, sagte Iblis. „Morgen beginnt dein Weg.“

Dann schloss er die Tür.

Und in der Dunkelheit – mit dem Geruch von kaltem Stein und dem Flüstern der Erinnerungen – fiel Rosemary in einen unruhigen Schlaf.