Kapitel 4: das Gespräch

Vor dem geheule von Rosemary:

Domiras Residenz thronte wie ein Raubtier aus Marmor über dem Dorf – hoch, kühl, stolz. Der Empfang war nicht warm.

Die Tür flog auf, noch bevor Iblis klopfen konnte. Zwei Wachen standen im Inneren, und Domira selbst kam ihnen entgegen. Ihre Haltung war aufrecht, ihre Augen scharf wie der Dolch an ihrer Hüfte. In ihrer Hand lag ein prachtvoll geschmiedetes Schwert – der Griff golden, die Klinge vom Feuer gebläut.

„Du bist unverschämt, Iblis“, fauchte sie. „Tauchst nach all den Jahren auf, ohne Erklärung – und verlangst Unterkunft, als wäre nichts geschehen.“

Iblis trat über die Schwelle, als gehörte sie ihm. Sein Blick wanderte über die prunkvolle Halle, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Ich verlange nichts, Domira. Ich nehme nur, was ich brauche.“

„Dann nimm das!“, schrie sie, stürzte vor und schlug mit voller Wucht auf seine Brust.

Ein Krachen – metallisch, verstörend. Der Klang von etwas, das zerbricht, obwohl es nicht sollte.

Domira schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Blick wanderte von dem zerbrochenen Schwertstück in ihrer Hand zu Iblis' unbewegtem Körper. Die Klinge war gegen seine Brust geprallt wie gegen Granit und in zwei stumpfe Fragmente zersprungen. Keine Blutung. Keine Reaktion. Nur Stille und dieser unerträgliche Blick – wie der eines Wesens, das weit mehr gesehen hatte als jeder lebende König oder jede Legende.

„Aufgeben willst du nicht, oder?“ Seine Stimme klang weder spöttisch noch wütend – nur müde. Tief und leer, als spräche etwas, das schon lange kein Interesse mehr am Tod hatte, weil es ihn zu oft gesehen hatte.

Domira spannte sich an. Ihr Griff um den Griffrest wurde weiß vor Zorn. „Was bist du?“

Iblis antwortete nicht sofort. Er trat an das große Fenster im hinteren Teil der Halle und blickte hinaus auf das leise leuchtende Dorf Dareth. „Ich habe den Anfang gesehen... und das Ende miterlebt.“

Sie lachte, bitter und hohl. „Du redest wie ein Wahnsinniger.“

„Vielleicht bin ich das auch. Oder vielleicht bin ich das Einzige, das übrig bleibt, wenn alles andere vergangen ist.“ Er wandte sich wieder zu ihr um. „Der Fluch hält mich noch fest. Doch die Zeit… sie bewegt sich in meiner Gegenwart nicht mehr.“

Domira wich instinktiv einen Schritt zurück. Die Luft um ihn war ruhig, aber schwer, wie vor einem Sturm, der nicht aufzieht, sondern wartet. „Du bist kein Mensch…“

„Ich bin nichts, was sein sollte.“ Ein Schatten fiel über sein Gesicht, kaum merklich – fast wie Bedauern. „Aber ich bin noch hier. Und ich habe eine Aufgabe.“

Domira verschränkte die Arme, ihre Haltung jetzt nicht mehr trotzig, sondern abwägend. „Die Kleine… Rosemary. Warum reist du mit ihr? Sie ist schwach. Gebrochen. Was willst du mit einem Kind, das kaum atmen kann, ohne zusammenzuzucken?“

Iblis blickte auf seine Handfläche, als sähe er dort etwas, das sie nicht sehen konnte. „Sie ist nicht einfach irgendein Kind. Sie ist ein Teil davon.“

„Teil von was?“ Domiras Stimme wurde leiser, ernster.

„Teil meiner Mission. Teil… des Rezepts.“ Seine Augen, kalt und unergründlich, trafen ihre. „Ob sie das überlebt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Aber sie ist ein notwendiger Schritt.“

Domira fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Etwas in seiner Stimme – nicht Grausamkeit, sondern kalte Entschlossenheit – schnürte ihr die Kehle zu. „Du benutzt sie also?“

„Ich beschütze sie“, antwortete Iblis ruhig. „Aber nicht aus Mitleid. Nicht aus Liebe. Sondern weil sie notwendig ist. Ein Werkzeug, das noch geformt werden muss. Doch sie hat Potenzial. Eine Seele, die trotz allem nicht bricht.“

Domira ließ sich langsam auf den alten Stuhl hinter ihr sinken. „Und was ist, wenn sie es nicht schafft?“

„Dann werde ich weitergehen.“ Iblis’ Antwort kam ohne Zögern. „Wie ich es immer getan habe.“

Für einen Moment herrschte Stille. Dann sprach Domira leise, fast flüsternd: „Du erinnerst mich an jemanden… Der glaubte, dass Zweck über Menschlichkeit steht.“

Iblis trat in den Schatten der Halle zurück, nur seine Stimme blieb. „Zweck ist alles, was mir bleibt.“

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Domira lehnte sich zurück, der Stuhl unter ihr knarrte leise. Ihre Stimme war kaum hörbar, doch die Frage war messerscharf:

„Dieser Fluch… was genau tut er dir an?“

Iblis trat wieder aus dem Schatten, doch es war, als würde sein Körper selbst das Licht meiden. Seine Bewegungen waren ruhig, aber jede Geste wirkte, als würde sie Gewicht tragen, das andere nicht sehen konnten.

„Er hält mich… fest“, sagte er. „An das Materielle. An diese Welt. An Schmerz.“

Domira runzelte die Stirn. „Festhalten? Wie eine Kette?“

Er lachte – leise, kalt, wie das Knirschen von Stein auf Stein.

„Nicht wie eine Kette. Eine Kette kannst du zerreißen. Dieser Fluch ist… durchdringend. Er ist in meinem Fleisch, in meinem Geist, in jedem Gedanken. Ich kann nicht sterben – doch jedes Mal, wenn ich verletzt werde, speichert er den Schmerz. Für immer.“

Domiras Augen verengten sich. „Du fühlst jede Wunde… für den Rest deiner Existenz?“

„Nein“, sagte er, und sein Blick wurde glasig. „Ich erlebe sie. Immer wieder. Jede Verletzung, die ich je erlitten habe – sie vergeht nicht. Der Fluch verwandelt sie in brennende Knoten aus Qual. Manchmal… wache ich auf, weil ich glaube, meine Haut reißt in zwei. Und dann merke ich… es ist ein Jahrhunderte alter Hieb. Ich erinnere mich an jeden einzelnen.“

Domira schwieg.

„Aber das ist nicht das Schlimmste“, fuhr er fort. „Der Fluch hat ein Limit. Und wenn ein Angriff stark genug ist… dann durchdringt er mich. Und der Schmerz… vervielfacht sich. Nicht nur der neue, auch der alte. Er kehrt zurück. Zehnfach. Hundertfach. Manchmal glaube ich, die Zeit selbst lacht mich aus, wenn ich es wage zu bluten.“

Domira ballte die Fäuste. „Das ist… unmenschlich.“

„Ich bin kein Mensch.“ Seine Antwort war ruhig. Sachlich. „Ich war es nie.“

„Warum lebst du dann noch? Warum nicht einfach… aufhören?“

Iblis sah sie lange an, und zum ersten Mal schimmerte etwas wie Zorn in seinen Augen – kein tobender, hitziger Zorn, sondern ein kaltes, leuchtendes Glühen, wie Lava unter Stein.

„Weil ich es nicht darf. Der Fluch ist nicht nur Schmerz – er ist Auftrag. Er zwingt mich, weiterzugehen. Zu suchen. Zu finden. Selbst wenn ich mir wünsche, es würde enden, lässt er mich nicht los.“

Domira stand langsam auf. Ihr Gesicht war blass, aber entschlossen.

„Und dieses Mädchen… ist ein Teil davon.“

„Ja“, sagte Iblis. „Ein Schlüssel. Vielleicht nicht der letzte. Aber ohne sie kann ich den Pfad nicht betreten.“

„Du bist wie ein verfluchter Gott auf Pilgerreise durch die Eingeweide der Welt…“ murmelte sie.

Er sagte nichts.