Kapitel 6: Der erste Funke

Die ersten Sonnenstrahlen krochen durch das Fenster, golden und weich, wie der sanfte Hauch eines neuen Tages. Rosemary lag noch in ihrem Bett, der Alptraum der letzten Nacht war nur noch ein Flimmern am Rande ihres Bewusstseins. Ihr Herzschlag hatte sich beruhigt, doch ihre Augen waren leer und schwer.

Ein Klopfen – dann öffnete sich die Tür ohne ihr Einverständnis. Iblis trat ein, ruhig wie immer. „Steh auf. Wir gehen.“

Rosemary richtete sich auf, blinzelte verschlafen. „Wohin?“

„In das Dorf. Frühstück.“

„Frühstück?“, wiederholte sie ungläubig.

Er sah sie kurz an. „Zieh dich an. Bring dein Schwert mit.“

Die Bar lag am Rand von Dareth, unauffällig, verwittert – doch voller Leben. Drinnen stank es nach Schweiß, Rauch und Alkohol. Es war nicht der Ort, an dem man einen jungen Teenager erwartet hätte. Doch Rosemary saß nun an einem wackligen Tisch, gegenüber von Iblis, der nichts bestellte – nur beobachtete.

Sie verstand nicht, warum sie hier waren. Und Iblis sagte nichts. Die Spannung im Raum lag wie ein Netz über allem.

Dann passierte es.

Ein grobschlächtiger Mann – fett, mit versoffenen Augen und schmutzigen Fingern – näherte sich ihrem Tisch. „Was für ein süßes Ding...“, grunzte er, während er mit den Fingern nach ihrem Schwertgriff griff.

Rosemarys Augen zuckten.

„Fass das nicht an.“ Ihre Stimme war leise, aber hart.

Er lachte nur. „Du brauchst doch gar kein Schwert, Püppchen.“

Dann tat er es. Er berührte das Schwert.

Etwas in ihr brach.

Sie sprang auf und stieß ihn mit beiden Händen zurück. Er stolperte, fluchte – zog einen Dolch. „Du kleine…!“

Drei weitere Männer – Freunde, offensichtlich – standen bereits auf.

Rosemarys Herz raste. Instinkt übernahm. Sie griff nach dem Schwert und wich dem ersten Schlag aus. Der Dolch schnitt an ihrem Arm vorbei, riss eine blutige Linie in ihre Haut.

Sie kämpfte, ungestüm und roh. Sie war nicht trainiert, aber wütend.

Sie schlug zu, wild, mit mehr Emotion als Technik. Einen erwischte sie am Oberschenkel, ein anderer wich aus und packte sie von hinten.

In diesem Moment erhob sich Iblis.

Er stand einfach nur da. Die beiden Angreifer, die noch kampfbereit waren, hielten inne. Etwas in seinem Blick... erstarrte sie.

„Wollt ihr sterben?“, fragte er ruhig.

Der Raum fror.

Die Männer ließen ab, zogen sich fluchend zurück. Rosemary stand zitternd da, das Schwert in der Hand, Blut am Ärmel. Ihre Brust hob und senkte sich rasend.

Später, zurück auf dem Trainingsfeld der Residenz, war sie wütend. Nicht auf Iblis – nicht direkt. Sondern auf sich selbst. Auf ihre Schwäche.

Sie griff das Schwert erneut, stellte sich in Kampfposition. Iblis beobachtete nur.

Sie schlug, Schritt für Schritt. Schnitt die Luft, kämpfte gegen einen unsichtbaren Gegner. Ihre Bewegungen waren hart, ungenau. Sie knirschte mit den Zähnen.

„Ich hätte besser sein müssen!“, keuchte sie. „Ich war zu langsam!“

Als sie fast zusammenbrach, trat Iblis endlich näher.

„Beruhige dich.“

Sie kniete. Atmete schwer.

Er setzte sich zu ihr in den Staub. „Es ist Zeit, dass du begreifst, wie diese Welt funktioniert. Magie – oder wie die Menschen es nennen – ist ein Irrtum. Es gibt keine Magie. Es gibt nur 'Knowledge'.“

Rosemary hob den Kopf.

„Du kannst nichts wirken, was du nicht kennst. Nicht oberflächlich – sondern tief. Mit allem, was du bist.“

Er griff in eine Tasche und holte ein Stück glühende Kohle hervor. „Feuer, zum Beispiel.“

Er legte es ihr auf die Handfläche. Sie schrie auf, ließ es fallen.

„Du musst es fühlen. Den Schmerz. Den Geruch. Den Klang von brennender Haut. Wenn du das Feuer nicht mit allen Sinnen verstehst, wird dein Mana niemals wissen, was es ist.“

Sie sah ihn erschrocken an.

„Mana“, fuhr er fort, „ist wie ein zweites Gehirn. Es speichert deine tiefsten Erfahrungen. Nur wenn es vollständig versteht, kann es wirken. Erst dann.“

Sie nickte langsam.

„Und dann gibt es Talente“, sagte er. „Menschen mit einer Gabe. Manche können ein Element schneller verinnerlichen. Manche – gar nicht.“

„Und… meine Augenfarbe?“ fragte sie.

„Unnatürliche Farben bedeuten ein extremes Talent. Aber sie verrät nicht, wofür. Deine aschgrauen Augen… sind etwas anderes. Eine zerbrochene Seele. PTSD. Wenn du heilst – werden sie sich verändern.“

Danach kam das körperliche Training. Iblis ließ sie Gewichte stemmen, aber sie konnte kaum zwei Wiederholungen schaffen. Ihre Muskeln zitterten. Ihr Rücken war zu schwach, ihre Arme zu dünn.

„Noch mal“, sagte er.

Sie fiel hin.

Er half ihr nicht auf.

Später ließ er sie einfache Dehnübungen machen – Beine spreizen, Rumpf beugen, Ausdauer stärken.

Am Ende des Tages lag sie erschöpft im Gras, zitternd, aber in ihren Augen brannte ein Funken.

Nicht Hoffnung.

Zorn.

Und Entschlossenheit.