Lily rannte weiter, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.
"Hey!", bellte einer und packte grob ihren Arm. "Wo glaubst du, gehst du hin?" Sie hatte kaum die Hälfte des Flurs geschafft, bevor zwei Wachen sie entdeckten.
Sie versuchte zu kämpfen, aber sie war zu schwach; ihre Beine trugen sie kaum.
Die andere Wache höhnte: "Du hast Glück, dass der Alpha dich nicht getötet hat. Wenn es nach mir ginge..."
Er beendete den Satz nicht. Stattdessen legten sie ihr wieder die Ketten um die Handgelenke und schleiften sie durch die Gänge wie einen streunenden Hund. Als sie den Kerker erreichten, warfen sie sie hinein und schlugen die Tür hinter ihr zu.
Sie brach auf dem Boden zusammen, die Kälte biss in ihre Haut, ihre Handgelenke brannten.
Sie wollte schreien, aber natürlich konnte sie nicht. Sie lag dort, zusammengerollt, zitternd.
Also ist es das? Das ist mein Leben?
Früher träumte sie davon, ihren Gefährten zu treffen. Gerettet zu werden. Geliebt zu werden.
Was für ein Witz.
Dieser Traum war jetzt tot.
Zayn war kein Retter. Er war nur ein weiterer Käfig. Eine weitere Hölle, die darauf wartete, sie zu verschlingen.
Die Tränen flossen weiter, während ihr Körper von innen heraus zu brennen begann. Ihre Haut fühlte sich heiß an. Ihr Atem wurde flach.
Sie begrüßte es. Das Fieber. Die Krankheit. Es war das Einzige, was sich vertraut anfühlte, seltsam tröstlich. Vielleicht würde sie diesmal nicht aufwachen.
Bitte, formte sie lautlos mit den Lippen zu niemandem. Lass mich einfach sterben.
***
Zayn stand mitten im Raum, die Fäuste geballt, und starrte auf die Tür, durch die Lily gerade gerannt war. Ihr Duft hing noch in der Luft – warm, sanft und eindringlich. Er haftete an den Laken. An seiner Haut. An seinen Lungen.
Er ging langsam zum Bett hinüber, seine Augen überflogen das zurückgelassene Durcheinander – das zerrissene Kleid, die weggeworfene Decke und die schwachen Blutstropfen auf den Laken, wo sie sich auf die Lippe gebissen hatte. In seinem Kopf spielten sich die Bilder von Lily immer wieder ab.
Narben. Dutzende. Einige dünn und gerade – wie von Peitschenhieben. Andere dick und gezackt – wie von Messern. Es gab auch Verbrennungen. Die Art, die jemanden für immer zeichnet. Ihr Körper war eine Landkarte des Leidens.
Er hatte in seinem Leben viel Schmerz gesehen. Er hatte die Hölle durchlebt.
Aber das hier? Das war etwas anderes.
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und zog hart an den Wurzeln.
Er hatte sie bestrafen wollen. Sie brechen. Sie die Hilflosigkeit spüren lassen, die er gefühlt hatte, als Irene ermordet wurde. Als sein Kind aus dem Mutterleib gerissen und den Hunden zum Fraß vorgeworfen wurde. Als seine Leute schrien und niemand kam.
Aber wie konnte er sie brechen, wenn sie bereits gebrochen war? Es gab wenig, was er über sie wusste. Er sollte alles über die Menschen wissen, die sein Leben und das Leben seiner Rudelmitglieder ruiniert hatten. Aber Lily Brightpaw war ein Rätsel.
Zayns Hände zitterten. Plötzlich stand er auf und schlug seine Faust in die Wand.
Das Holz splitterte unter seinen Knöcheln. Blut verschmierte die Oberfläche. Er bemerkte es kaum und es war ihm egal.
"Was zum Teufel ist los mit dir?", murmelte er zu sich selbst, während er im Zimmer auf und ab ging.
Sie war die Tochter seines Feindes, desjenigen, der alles zerstört hatte, was er liebte. Das würde sich nie ändern. Aber diese Narben wurden zugefügt, um Schmerz zu verursachen. Zayn presste seinen Kiefer zusammen, als er sich daran erinnerte, wie sie bei seiner Berührung zusammenzuckte. Die Angst in ihren Augen.
Und wie sie aussah, als er sie hinauswarf – Tränen liefen über ihre Wangen, sein Hemd hing lose an ihrem kleinen, zerbrechlichen Körper.
Zayns Magen verkrampfte sich.
Warum zum Teufel war das wichtig?
Sie war der Feind.
Dennoch war er entschlossen herauszufinden, warum. Jemand musste wissen, was mit ihr passiert war. Jemand, der ihr immer nahe stand.
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und platzte schließlich heraus: "Bringt mir das Dienstmädchen", befahl er der Wache vor seiner Tür.
Fünfzehn Minuten später wurde eine kleine, ältere Wölfin in den Raum gebracht. Sie verbeugte sich tief, ihre Augen mieden seinen Blick.
"Du wurdest Lily Brightpaw zugeteilt?", fragte Zayn mit scharfer Stimme.
"Ich habe mich um sie gekümmert, seit sie ein Baby war", antwortete sie, ihre Stimme respektvoll, aber fest. "Mein Name ist Martha."
Er musterte sie und versuchte zu entscheiden, ob sie loyal oder verängstigt war.
"Ist sie von Geburt an stumm?", fragte er.
Martha zögerte. "Nein, Alpha."
Zayns Kiefer zuckte. "Erkläre."
"Sie wurde vergiftet", sagte Martha leise. "Ein langsam wirkendes Gift. Niemand wusste es zunächst – nicht bis seltsame Symptome begannen. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, also was auch immer passierte... es blieb zu lange unbemerkt."
Zayn runzelte die Stirn. "Vergiftet?"
"Ja, Alpha", sagte Martha. "Es beschädigte ihre Stimme. Sie verlor sie, als sie noch sehr jung war. Und... es hat sie stark beeinträchtigt."
Das erklärte die verzögerte Heilung. Das Fehlen einer Verwandlung. Die langsamen Reaktionen. Sie war in ihrem eigenen Körper gefangen.
"Sie hat keinen Wolf?", fragte er.
"Sie sollte einen haben", sagte Martha, ihre Stimme zitterte jetzt ein wenig. "Aber das Gift schwächte die Verbindung. Ihre erste Verwandlung kam nie."
Zayn wandte sich ab, sein Gesichtsausdruck unlesbar.
Natürlich. Natürlich war es nicht nur so, dass sie schwach war. Die Göttin hatte ihm nicht nur eine stimmlose Omega gegeben – sie hatte ihm eine gebrochene gegeben. Stumm. Ohne Wolf. Unwiederbringlich beschädigt.
Seine Fäuste ballten sich fester.
"Was ist mit den Narben?", fragte er.
Martha zögerte wieder.
Zayns Ton wurde dunkler. "Antworte mir."
Sie schluckte schwer, bevor sie antwortete: "Sie sind von ihrer Familie."
Stille.
Zayn drehte sich langsam zu ihr um. "Ihr Vater hat das getan?"
Ihre Augen senkten sich zu Boden. "Und ihr Bruder."
Zayns Kiefer verkrampfte sich.
"Sie wurde oft bestraft", sagte Martha, jetzt leiser. "Manchmal für ein lautes Geräusch. Manchmal dafür, dass sie im Raum war. Manchmal... für gar nichts. Der Alpha hasste sie von dem Moment an, als ihre Mutter starb."
Zayn sprach nicht. Er starrte an Martha vorbei, in seinen eigenen Gedanken verloren.
"Sie wuchs versteckt in den Dienstbotenquartieren auf. Durfte nie trainieren, sich verwandeln oder Kontakte knüpfen. Sie arbeitete wie eine von uns. Schlimmer sogar", fügte Martha hinzu. "Wir alle haben es gesehen. Niemand sagte etwas."
Zayn wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das nicht erwartet. Er hatte gedacht, sie sei nur eine verwöhnte Alpha-Tochter. Aber sie war auch eine Gefangene.
Martha kniete nieder, was ihn überraschte.
"Alpha", sagte sie, ihre Stimme verzweifelt. "Bitte."
Er blinzelte, überrascht von dem Wechsel im Tonfall.
"Bitte... lasst mich an ihrer Seite bleiben", sagte sie. "Sie ist allein. Sie hat niemanden mehr. Auch wenn sie nicht spricht, ich kann sie hören. Ich verstehe sie."
Zayn starrte sie an.
Sie bettelte nicht um ihr Leben. Sie bettelte nicht um Freiheit. Sie bettelte darum, bei Lily bleiben zu dürfen. Zayn wandte sich ab und antwortete lange Zeit nicht. Seine Hände fielen an seine Seiten.
"Tust du das aus Mitleid?", konnte er nicht anders als zu fragen, "Unter meiner Herrschaft sind Wölfe wie du frei zu tun, was sie wollen. Du musst ihr nicht dienen."
Martha schüttelte den Kopf: "Sie hat sonst niemanden mehr. Ich... ich kann sie nicht so zurücklassen. Bitte Alpha Zayn, bitte."