Kapitel 6: Geister und Versprechen

"Du bist jetzt eine Sklavin."

Victorias Worte hingen wie Gift in der Luft und erstickten sie. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Das dünne rote Kleid klebte an ihrem Körper wie eine zweite Haut, kalt und erniedrigend. Sie saß zitternd auf dem Steinboden, lange nachdem Victorias Schritte verklungen waren.

Martha setzte sich neben sie und legte ihr die Decke um die Schultern. "Weine nicht, Liebes," flüsterte sie, obwohl ihre eigene Stimme zitterte. "Atme einfach. Du lebst noch."

Aber Lily war nicht mehr sicher, ob das noch ein Segen war.

Momente später hallten wieder schwere Stiefel den Korridor entlang.

"Der Alpha will sie in seine Gemächer bringen lassen," kündigte einer der Wachen an, ohne sie anzusehen.

Lily stockte der Atem. Sie sah Martha mit weit aufgerissenen, verängstigten Augen an.

Martha ergriff ihre Hände. "Hör mir zu, Lily. Tu, was sie sagen. Kämpfe nicht. Leiste keinen Widerstand. Ertrage es einfach. Du hast es bis hierher geschafft. Ich weiß, es ist nicht fair, aber ich brauche dich lebend. Verstanden?"

Lily nickte schwach. Sie wollte nicht sterben. Aber sie wollte auch nicht gehen.

Der Weg zu Zayns Gemächern fühlte sich an wie ein Marsch zum Galgen. Zwei Wachen eskortierten sie, während Martha dicht bei ihr blieb, sanft ihren Ellbogen umfasste und stumme Unterstützung bot.

Lily ging langsam und spürte jeden Schritt wie Gewichte an ihren Knöcheln. Sie begegnete niemandes Blick.

Die Korridore fühlten sich kälter an als zuvor, die Steine rauer unter ihren nackten Füßen. Sie nahm kaum wahr, wie die Wachen sie vorwärts führten. Ihr Geist war woanders, taub vor Angst.

"Ich weiß, dass das schwer ist, Lily," flüsterte Martha sanft. "Aber was auch immer passiert, bitte halte durch."

Lily hielt ihren Blick auf den Boden gerichtet. Sie konnte nicht mit Worten antworten, aber Martha kannte sie gut genug, um das leichte Zittern ihrer Glieder und die schnellen, flachen Atemzüge zu verstehen.

Lily war einfach müde. Müde vom Schmerz. Müde davon, sich hilflos zu fühlen. Müde von diesem Leben.

Sie hielten vor schweren Holztüren. Lily erkannte sie sofort, ihr Herz sank schmerzhaft. Diese Türen waren vertraut. Zu vertraut.

"Warte hier," befahl eine Wache barsch, klopfte einmal und stieß dann die Tür auf, wobei sie Lily hineinschob.

In dem Moment, als sie den Raum betrat, erstarrte sie, ihr Atem stockte schmerzhaft in ihrer Brust. Dies war nicht Zayns Zimmer, es war das ihres Vaters.

Ihre Beine gaben sofort nach, und sie fiel auf den kalten Marmorboden, ihr ganzer Körper zitterte heftig. Vertraute Gerüche umgaben sie. Altes Leder, abgestandener Whiskey, anhaltender Rauch. Sie presste eine Hand auf ihren Mund und versuchte, die Übelkeit zurückzuhalten.

Erinnerungen drängten sich auf, unaufhaltsam und grausam. Blaue Flecken, versteckt unter Ärmeln. Der scharfe Stich von der Peitsche ihres Bruders. Der hasserfüllte Blick ihres Vaters, der ihr immer die Schuld für die Mutter gab, die sie nie gekannt hatte. Das Echo ihres Lachens erfüllte ihre Ohren und übertönte die Realität.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die Bilder und Tränen zurückzuhalten. Nicht hier. Bitte... nicht hier.

Sie hörte vage Marthas flehende Stimme durch die Tür, die darum bat, an ihrer Seite bleiben zu dürfen, gefolgt von den Wachen, die entschieden ablehnten. Dann kehrte die Stille zurück und ließ Lily völlig allein.

Sie öffnete langsam die Augen, ihre Sicht durch Tränen verschwommen. Die vertrauten dunklen Möbel ragten um sie herum auf, der schwere Schreibtisch, die abgenutzten Ledersessel, der kalte Kamin. Sie hatte diesen Raum seit dem Aufstand nicht mehr betreten, aber ihr Körper erinnerte sich lebhaft an jedes Detail.

Die verschlossene Tür. Die beißenden Worte. Die grausamen Hände.

Ein erstickter Laut entfuhr Lily, als sie sich fester gegen die kalte Steinwand drückte und ihre Knie an die Brust zog. Ihre Atmung beschleunigte sich, ungleichmäßig und flach, als ob die Luft selbst ausginge. Panik überwältigte sie und fesselte sie in einem Körper, den sie nicht mehr zu kontrollieren glaubte.

Sie saß auf dem Boden, die Arme fest um sich geschlungen, unkontrollierbar zitternd. Ihre Brust wurde mit jeder Sekunde schwerer, die Luft um sie herum dick und bedrückend.

Sie verlor völlig das Zeitgefühl, Sekunden verschmolzen zu endloser Dunkelheit. Aber eines wurde in ihrem Geist klar. Dieser Raum war ein Grab, und sie war lebendig darin begraben worden.

Niemand war gekommen, um ihr früher zu helfen. Niemand würde jetzt kommen.

Sie war völlig allein, gefangen in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen.

***

Unter dem bewölkten Himmel stand Zayn aufrecht vor den versammelten Wölfen. Jeder Wolf beobachtete ihn genau, ihre Gesichtsausdrücke waren eine Mischung aus Stolz, Misstrauen, Trauer und Unsicherheit.

Einige vertrauten ihm bedingungslos, Loyalität leuchtete klar in ihren Augen, während andere vorsichtig und auf der Hut blieben. Zayn verstand das. Die Vereinigung zweier Rudel, die einst Feinde waren, würde nicht über Nacht geschehen.

Er holte tief Luft und trat auf die erhöhte Plattform. Ezra stand neben ihm und bot Unterstützung. Stille trat ein, als Zayns Stimme deutlich über die Menge hallte.

"Von nun an existieren Thunder Paw und Obsidian Moon nicht mehr als getrennte Rudel. Wir sind eine Familie, ein Rudel."

Ein leises Murmeln ging durch die Menge. Einige Gesichter zeigten Erleichterung und Hoffnung, während andere sich vor Zweifel oder Groll verhärteten.

"Ich weiß, dass viele von euch Häuser, Familien, Freunde und Anführer verloren haben. Die Rebellion hat uns alle tief verletzt," fuhr Zayn fort, seine Stimme fest, aber verständnisvoll. "Aber ich habe nicht nur für Rache gekämpft. Ich habe für unsere Zukunft gekämpft."

Er drehte sich leicht und deutete auf das entfernte Ackerland, einen Ort, der einst stolze Häuser beherbergte, jetzt reduziert auf kahle Felder und schmerzhafte Erinnerungen.

"Dieses Land gehörte uns, bevor Thunder Paw es zerstörte. Jetzt gehört es uns allen. Auf diesem Grund werden wir ein neues Rudelhäuser bauen. Es wird stärker und größer sein. Ein Symbol der Einheit und des Überlebens, ein Zuhause, in dem jeder Wolf willkommen sein wird."

Die Menge wurde ruhiger. Er sah Zweifel in vielen Augen, Wut in anderen, aber Neugier und Optimismus begannen ebenfalls zu erscheinen.

Er wusste, dass Worte allein nicht ausreichten. Sie brauchten Beweise, Taten und Fairness. Zayn begegnete den unsicheren Blicken direkt.

"Ich werde nicht so tun, als wäre das einfach. Vertrauen muss verdient werden, und Wunden brauchen Zeit zum Heilen. Aber wir haben jetzt eine Wahl – an Bitterkeit festzuhalten oder gemeinsam zu heilen. Ich verspreche euch, ich werde uns in eine bessere Zukunft führen."

Er hob kurz die Hand, um den Ernst seines Versprechens zu unterstreichen. "Meine Gesetze werden fair durchgesetzt. Mein Schutz erstreckt sich auf jeden Wolf hier, unabhängig von eurer Vergangenheit. Loyalität wird belohnt. Aber Verrat..." Er ließ die Stille deutlich für ihn sprechen.

Er trat zurück und blickte zu Ezra, der zustimmend nickte. Sie tauschten einen wissenden Blick aus, bevor sie gemeinsam von der Plattform herabstiegen.

Ezra lehnte sich nahe heran und senkte seine Stimme. "Glaubst du, sie werden das so einfach akzeptieren?"

Zayns Blick schweifte erneut über die Menge und bemerkte die gemischten Reaktionen, sowohl hoffnungsvoll als auch vorsichtig.

"Nein," gab er leise zu. "Aber sie werden es lernen müssen. Wenn sie wirklich Frieden wollen, ist dies der einzige Weg nach vorn."

Als Zayn zum Rudelhäuser zurückkehrte, hatte die Dämmerung begonnen, schwere Schatten entlang der Korridore zu werfen. Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern. Die Vereinigung zweier Rudel erforderte Geduld und Disziplin, aber jetzt verlangte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.

Lily...

Als er sich seinen privaten Gemächern näherte, traf ihn ihr Duft, scharf und unverkennbar. Er hielt abrupt an, sein Kiefer verkrampfte sich vor Irritation.

Ein tiefes Knurren rumpelte in seiner Brust. Ihre Anwesenheit störte ihn tiefer, als er zugeben wollte. Der Duft war mit Angst durchsetzt und weckte eine seltsame Unruhe in ihm.

Zayn streckte die Hand aus, um den Türgriff zu packen, entschlossen, sie zu konfrontieren und Kontrolle auszuüben. Um sie daran zu erinnern, wer jetzt genau die Macht hatte. Er würde nicht zulassen, dass ihre verängstigten Augen oder stummen Bitten ihn wieder schwächten.

Aber bevor er die Tür öffnen konnte, hallten eilige Schritte den Gang hinter ihm entlang.

"Alpha!" rief Ezra dringend, sein Gesicht angespannt, als er sich näherte. "Wir haben ein Problem. Die Patrouille hat Streuner an der nördlichen Grenze gesichtet. Sie sind organisiert und greifen schnell an."

Zayn drehte sich scharf um, Irritation blitzte in seinen Augen auf. "Wie viele?"

"Zu viele, um sie zu ignorieren," antwortete Ezra ernst. "Wir müssen jetzt gehen."

Zayn fluchte leise, Frustration spannte jeden Muskel in seinem Körper an. Er warf einen letzten Blick auf die geschlossene Tür, ihr Duft zog an ihm. Seine Gedanken verdunkelten sich.

Du wirst warten müssen, Lily Brightpaw. Ich komme zurück für dich.