Kapitel 2 - Der sanfte Riese im Mondlicht

Der Wald war dunkler geworden. Kälter. Bedrohlicher.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem eisigen Boden saß, während Tränen auf meinen Wangen gefroren und die Realität über mich hereinbrach. Jedes Wort, das Julian gesprochen hatte, spielte sich in meinem Kopf immer wieder ab.

Niemand Wichtiges.

Ein Platzhalter.

Wir sind fertig.

Sechs Jahre in Sekunden ausgelöscht. Sechs Jahre voller Versprechen, zärtlicher Küsse und geflüsterter Zukunftspläne – verschwunden. Mein ganzes Leben hatte ich um Jules und unsere gemeinsamen Pläne aufgebaut. Was sollte ich jetzt tun?

Mein Knöchel pochte mit scharfen, beharrlichen Schmerzen, als ich mich endlich zwang aufzustehen. Der Wald schien sich um mich herum zu schließen, dunkel und gleichgültig gegenüber meinem Leid. Ich musste zurück zum Rudelhaus – zurück zu Alpha Maxen, meinem Adoptivvater. Er würde mir helfen, diesen Albtraum zu verstehen.

Ich machte einen Schritt und wäre fast zusammengebrochen, als der Schmerz mein Bein hochschoss. Definitiv verstaucht.

Großartig.

Verloren in einem unbekannten Wald. Praktisch nackt bei Minustemperaturen. Verletzt. Und irgendwo da draußen jagten sexbesessene Wölfe nach Gefährtinnen.

Meine Zähne klapperten, als ich mich vorwärts schleppte und Baumstämme zur Unterstützung nutzte. Jeder Schritt war eine Qual. Der dünne Baumwollstoff meines Nachthemds bot keinen Schutz gegen die beißende Herbstluft. Meine Finger waren taub geworden, und ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren.

Ich versuchte, mich an die Überlebenstechniken zu erinnern, die Alpha Maxen mir beigebracht hatte. Folge dem Wasser bergab – es führt normalerweise zur Zivilisation. Achte auf Moos, das an der Nordseite der Bäume wächst. Beobachte die Sterne.

Aber Wolken waren aufgezogen und verdeckten die Sterne, und in der Dunkelheit konnte ich Moos nicht von Schatten unterscheiden.

"Hallo?" rief ich, meine Stimme erbärmlich klein gegen die Weite des Waldes. "Ist da jemand?"

Nur der heulende Wind antwortete mir.

Ich stolperte weiter, jeder Schritt schmerzhafter als der letzte. Meine Gedanken schweiften zu gefährlichen Orten ab. Würde überhaupt jemand bemerken, dass ich vermisst wurde? Würde es Julian kümmern, wenn ich hier draußen erfrieren würde? Würde er einen Funken Reue verspüren, weil er mich allein und verletzt zurückgelassen hatte?

Das Bild seiner Hand um meinen Hals blitzte vor meinen Augen auf. Die kalte Wut in seinem Blick. Der Fremde, der meinen liebevollen Freund ersetzt hatte.

Ein Schluchzen entwich meinen Lippen, der Klang wurde von der Nacht verschluckt. Ich war jetzt niemand. Nichts.

Die Bäume lichteten sich plötzlich, und ich befand mich am Rand einer kleinen Lichtung. Mondlicht brach durch die Wolken und badete den Raum in ätherischem Silberlicht. Es war wunderschön. Unnatürlich schön.

Perfekte Wildblumen übersäten trotz der Jahreszeit die Lichtung. Das Gras sah weich aus, einladend. Selbst die Luft fühlte sich hier anders an – irgendwie wärmer. Geschützt.

Zu perfekt. Zu still.

Jeder Instinkt schrie Gefahr, doch mein gefrorener Körper sehnte sich nach der mondbeleuchteten Wärme. Ich humpelte vorwärts, angezogen vom Versprechen des Komforts.

Da sah ich es.

Ein massiver Schatten am anderen Ende der Lichtung. Zu groß, um ein normaler Wolf zu sein. Zu still, um etwas anderes als ein Raubtier zu sein, das seine Beute beobachtet.

Ich erstarrte, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen.

Der Schatten bewegte sich, und Mondlicht traf sein Fell – pechschwarz, das das Licht um sich herum zu absorbieren schien. Leuchtend goldene Augen fixierten mich mit beunruhigender Intelligenz.

Dies war kein normaler Wolf. Normale Wölfe waren nicht so groß wie Pferde. Normale Wölfe hatten kein Fell, das mit der Dunkelheit selbst zu wogen schien. Normale Wölfe ließen die Luft um sie herum nicht vor Macht vibrieren.

Ich machte einen wackeligen Schritt zurück, bereit zu rennen trotz meines verletzten Knöchels. Bereit, die Qual zu ertragen, wenn es bedeutete, diesem Wesen zu entkommen.

Der Wolf – wenn man ihn so nennen konnte – erhob sich zu seiner vollen Größe. Er war kolossal. Monströs. Allein seine Schultern ragten höher als mein Kopf.

Ein Wimmern entwich meiner Kehle. So würde ich sterben. Allein. Gefroren. Zerrissen von irgendeiner übernatürlichen Bestie.

Der massive Wolf trat in die Lichtung, jede Bewegung trotz seiner unmöglichen Größe bedacht und anmutig. Seine Augen verließen nie die meinen, hielten mich mit ihrer goldenen Intensität an Ort und Stelle fest.

Ich sollte rennen. Ich wusste, ich sollte rennen.

Aber wohin? Und wie weit würde ich mit meinem verletzten Knöchel kommen, bevor dieses Monster mich einholen würde?

Als das Biest näher kam, gaben meine Beine schließlich nach. Ich brach auf dem weichen Gras zusammen, zitterte heftig – vor Kälte, vor Angst, vor Erschöpfung.

"Bitte," flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass Betteln nichts nützen würde. "Bitte tu mir nicht weh."

Der Wolf hielt inne, neigte seinen massiven Kopf, als würde er meine Worte abwägen. Dann, zu meinem völligen Erstaunen, ließ er sich einige Meter von mir entfernt auf den Boden sinken. Er legte seinen massiven Kopf auf enorme Pfoten, die Augen beobachteten mich weiterhin aufmerksam.

Kein Angriff. Kein Vorrücken. Nur... Beobachten.

Minuten vergingen in angespannter Stille. Mein Zittern wurde heftiger, während mein Körper versuchte, Wärme zu bewahren. Die Augen des Wolfes verfolgten jedes Zittern, jeden verzweifelten Versuch, mich durch Reiben meiner Arme zu wärmen.

Dann erhob er sich langsam wieder. Mein Atem stockte in meiner Kehle, als er auf mich zutappte.

Das ist es, dachte ich. Er hat nur mit mir gespielt. Hat meine Angst genossen vor dem Töten.

Ich schloss die Augen, unfähig, den nahenden Tod zu beobachten.

Wärme.

Das war es, was ich als Nächstes spürte. Nicht das Reißen von Krallen oder das Durchbohren von Zähnen, sondern Wärme, als das massive Geschöpf sich neben mich legte und seinen riesigen Körper gegen meine gefrorene Gestalt drückte.

Ich keuchte, meine Augen flogen auf und ich fand mich nur Zentimeter vom Gesicht des Wolfes entfernt. Aus der Nähe konnte ich die komplizierten Muster in seinem Fell sehen – Wirbel aus tieferem Schwarz gegen Mitternacht, fast wie lebendige Tätowierungen, die sich mit jedem Atemzug bewegten.

Der Wolf rollte sich um mich herum, sein massiver Schwanz legte sich über meine Beine wie eine dicke, pelzige Decke. Wärme strahlte von seinem Körper aus und vertrieb die tödliche Kälte, die sich in meinen Knochen festgesetzt hatte.

"Was machst du da?" flüsterte ich, verwirrt von dieser Wendung der Ereignisse.

Der Wolf schnaubte nur, sein warmer Atem strich über mein Gesicht. Nicht bedrohlich. Fast... beschützend.

Das ergab keinen Sinn. Wölfe – selbst Werwölfe – verhielten sich nicht so gegenüber Fremden. Besonders nicht gegenüber menschlichen Fremden.

Doch hier war dieses monströse Geschöpf und teilte seine Wärme. Schützte mich vor der bitteren Kälte, die mein Leben hätte fordern können.

Zögernd streckte ich eine zitternde Hand aus. Der Wolf beobachtete, bewegte sich aber nicht, als meine Finger sein Fell berührten. So weich. Unmöglich weich. Und warm. Gott, so wunderbar warm.

"Danke," murmelte ich, ohne mich darum zu kümmern, wie verrückt es war, einem Wolf zu danken. Einem seltsamen, magischen, unmöglichen Wolf.

Seine goldenen Augen blinzelten langsam zur Bestätigung. Fast wie ein Nicken.

Erschöpfung überkam mich in Wellen. Die Ereignisse der Nacht – Julians Verrat, meine Verletzung, die Kälte, die Angst – hatten jeden Funken meiner Kraft aufgezehrt. Meine Augenlider wurden schwer, als die Wärme des Wolfes in meine gefrorenen Glieder sickerte.

"Ich sollte weitergehen," murmelte ich, obwohl der Gedanke, dieses unerwartete Heiligtum zu verlassen, mich mit Furcht erfüllte. "Muss nach Hause."

Der Wolf grollte tief in seiner Brust. Kein Knurren – eher wie eine Meinungsverschiedenheit. Bleib, schien dieser Laut zu sagen.

Und wirklich, wohin sollte ich gehen? Durch dunkle Wälder stolpern mit einem verletzten Knöchel, mit wer weiß welchen Gefahren, die in den Schatten lauerten?

Hier, in dieser perfekten Lichtung mit diesem seltsamen, sanften Riesen, war ich sicher. Warm. Beschützt.

Meine Augen fielen zu, trotz meiner besten Bemühungen, wachsam zu bleiben. Die rhythmische Atmung des Wolfes wiegte mich in Richtung Bewusstlosigkeit. Sein Herzschlag – stark und stetig an meinem Rücken – war seltsam tröstlich.

In diesem surrealen Moment, beschützt von einem Wesen, das mir Angst machen sollte, fühlte ich mich sicherer als die ganze Nacht. Sicherer sogar, als ich mich in Julians Armen in den letzten Monaten gefühlt hatte.

Die Ironie entging mir nicht. Ein Monster zeigte mir mehr Freundlichkeit als der Mann, den ich sechs Jahre lang geliebt hatte.

Als ich am Rande des Bewusstseins schwebte, spürte ich, wie der Wolf sich leicht bewegte, seine Position anpasste, um mich besser mit seiner Wärme zu bedecken. Sein massiver Kopf kam direkt über meinem zur Ruhe, sein Atem bewegte mein Haar.

"Warum hilfst du mir?" flüsterte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.

Der Wolf drückte sich einfach näher, sein Schutz unmissverständlich.

Ich ließ mich treiben, zu erschöpft, um diese seltsame Wendung der Ereignisse weiter zu hinterfragen. Was auch immer dieses Geschöpf war, was auch immer seine Gründe waren, mir zu helfen, ich konnte mir morgen darüber Gedanken machen. Falls ich bis morgen überleben würde.

Ein dunkler Gedanke durchzuckte meinen Geist, als der Schlaf mich übermannte. Was, wenn das alles nur ein Traum war? Was, wenn ich tatsächlich gerade erfror und mein Gehirn diese Fantasie von Wärme und Schutz als letzten Trost erschuf?

Der Schwanz des Wolfes zog sich enger um mich, als spürte er meine dunklen Gedanken.

Ob real oder nicht, dieser Moment des Friedens war ein Geschenk, das ich dringend brauchte. Also ergab ich mich ihm und ließ die Erschöpfung mich übermannen.

Ich weiß nicht, wie lange ich an der warmen Seite des Wolfes döste. Minuten oder Stunden, es war unmöglich zu sagen. Aber ich wurde in die Wirklichkeit zurückgerissen, als der massive Körper neben mir plötzlich anspannte.

Meine Augen öffneten sich schlagartig und ich sah den Wolf auf seinen Füßen, seinen Körper angespannt, während er beschützend über mir aufragte. Ein tiefes, knochenerschütterndes Knurren drang aus seiner Brust – ein Geräusch so mächtig, dass es durch die Erde unter uns zu vibrieren schien.

Die friedliche Lichtung hatte sich verwandelt. Die Luft knisterte vor Spannung. Das Fell des Wolfes stand zu Berge, diese seltsamen Muster darin schienen sich mit einer inneren Kraft zu winden und zu verschieben.

Sein massiver Kopf war der Dunkelheit jenseits der Lichtung zugewandt, goldene Augen fixierten etwas, das ich nicht sehen konnte.

Was auch immer dort draußen war, es reichte aus, um selbst dieses monströse Geschöpf zu alarmieren.

Und wenn es meinen Beschützer erschreckte, wie verängstigt sollte ich dann sein?