Kapitel 10 - Eine unentrinnbare Präsenz

Meine Lungen brannten. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich Eisdolche schlucken, während ich meinen erschöpften Körper durch den dichten Wald vorantrieb. Drei Tage. Drei Tage des Rennens, Versteckens und kaum Überlebens.

Die kleine Taschenlampe in meiner Hand flackerte, die Batterien gingen zur Neige. Bald würde ich in völliger Dunkelheit sein.

"Komm schon," flüsterte ich und schlug sie gegen meine Handfläche. Der Lichtstrahl stabilisierte sich kurzzeitig und beleuchtete den tückischen Boden vor mir.

Meine Vorräte waren fast aufgebraucht. Eine halbe Flasche Wasser. Ein paar Streifen Trockenfleisch. Nichts, was mich in dieser Wildnis noch lange am Leben halten würde. Ich hatte nicht mit einer so langen Reise gerechnet, als ich vor dem Blue Mountain Rudel geflohen war.

Ich hatte überhaupt nicht viel geplant.

Irgendwo hinter mir zerbrach ein weiterer Zweig. Ich erstarrte und versuchte, über mein pochendes Herz hinweg zu hören. War es nur ein Tier? Oder etwas Schlimmeres?

Jemand Schlimmeres.

Die Paranoia zerfraß mich bei lebendigem Leib. Jeder Schatten sah aus wie Julian, jedes Rascheln klang wie Verfolgung. Ich bewegte mich weiter, getrieben von nackter Angst statt eines echten Plans.

Mein Fuß verfing sich in einer freiliegenden Wurzel, und ich stolperte, konnte mich gerade noch abfangen, bevor ich mit dem Gesicht im Dreck landete. Schmerz schoss von meinem Knöchel hoch, keine richtige Verstauchung, aber eine deutliche Warnung, dass mein Körper seine Grenzen erreichte.

"Scheiße," zischte ich und lehnte mich an einen Baumstamm, um zu Atem zu kommen.

Mein Hals war ausgetrocknet. Ich erlaubte mir einen winzigen Schluck Wasser, gerade genug, um meine Zunge zu benetzen. Die Versuchung, die ganze Flasche hinunterzustürzen, war überwältigend, aber ich zwang mich, den Deckel wieder aufzusetzen. Wer wusste, wann ich mehr finden würde?

Die Nacht drängte sich um mich herum, bedrückend und lebendig mit Geräuschen, die ich nicht identifizieren konnte. Als ein Mensch, der unter Wölfen aufgewachsen war, hatte ich nie viel Zeit allein im Wald verbracht. Ich hatte es nie gebraucht. Julian war immer bei mir gewesen, seine Wolfssinne hatten uns beide beschützt.

Julian.

Meine Brust schmerzte bei dem Gedanken an ihn. Nicht vor Sehnsucht, sondern vor bitterem Verrat. Die Erinnerung an seinen unerwünschten Besuch in meinem Bett blitzte durch meinen Kopf. Seine besitzergreifenden Hände. Seine selbstgerechten Worte.

"Ich kann beides haben."

Ein Schauder durchfuhr mich, der nichts mit der kalten Nachtluft zu tun hatte. Es gab kein Zurück. Niemals.

Ich stieß mich vom Baum ab und verzog das Gesicht, als ich mein Gewicht auf meinem schmerzenden Knöchel testete. Er hielt. Ich musste weitergehen. Ruhe war ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte.

Die Taschenlampe flackerte erneut, diesmal noch hartnäckiger. Ich gab ihr einen weiteren frustrierten Klaps, aber der Lichtstrahl wurde nur schwächer.

"Wag es ja nicht, mich im Stich zu lassen," murmelte ich.

Als würde sie mir trotzen, flackerte das Licht noch einmal und erlosch dann vollständig. Ich wurde in eine Dunkelheit gestürzt, so absolut, dass es sich anfühlte wie ein physisches Gewicht, das gegen meine Augen drückte.

Panik krallte sich in meinen Hals. Ich drängte sie zurück und kämpfte darum, meine Atmung zu kontrollieren. Ich konnte das schaffen. Ich musste das schaffen.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Schwärze. Der Mond war eine dünne Sichel und bot kaum genug Licht, um Bäume von Schatten zu unterscheiden. Ich stopfte die nutzlose Taschenlampe in meinen Rucksack und bewegte mich mit ausgestreckter Hand vorwärts, tastend.

Mein Fortschritt verlangsamte sich auf ein Kriechtempo. Jeder Schritt war ein Glücksspiel, meine Füße suchten nach festem Boden. Zweige kratzten an meinem Gesicht und meinen Armen und hinterließen stechende Spuren, die ich nicht sehen konnte.

Würde überhaupt jemand nach mir suchen? fragte ich mich bitter. Alpha Maxen hatte deutlich gemacht, dass ich für ihn wertlos war. Das Rudel sah in mir nichts als eine Omega-Dienerin. Selbst Julian wollte mich nur als eine Art verdrehtes, geheimes Spielzeug.

Für einen absurden Moment wünschte ich mir fast, dass sich jemand genug um mich sorgen würde, um nach mir zu suchen.

Fast.

Ein Heulen zerriss die Nacht, entfernt, aber unverkennbar. Mein Blut gefror zu Eis.

Sie kamen.

Der Klang kam von hinter mir, aus der Richtung des Rudelgebiets. Sie hatten meine Abwesenheit entdeckt. Sie jagten.

Ein frischer Schub Adrenalin durchflutete meinen Körper. Ich gab die Vorsicht auf und bewegte mich trotz der Dunkelheit schneller. Zweige peitschten mir ins Gesicht. Dornen verfingen sich in meiner Kleidung. Nichts davon war wichtig.

Nur die Flucht zählte.

Ich stolperte in eine kleine Lichtung, das Mondlicht enthüllte plötzlich den Boden vor mir. Mein Knöchel pochte bei jedem Schritt und drohte, vollständig nachzugeben. Wie viel weiter konnte ich noch laufen? Wie viel weiter würde ich kommen, bevor sie mich fangen würden?

Das Heulen ertönte erneut, diesmal näher. Mein Herz setzte aus.

"Nein, nein, nein," flüsterte ich und trieb meine brennenden Beine schneller an.

Ich hörte den Aufprall nicht kommen. In einem Moment lief ich noch, im nächsten prallte ein massives Gewicht von hinten auf mich. Ich ging hart zu Boden, mein Gesicht krachte in den Schmutz, die Luft explodierte aus meinen Lungen.

Schmerz blühte über meinen Rücken und meine Schultern auf. Ich schmeckte Blut und Erde.

Das war's. Sie hatten mich gefangen. Ich würde zurückgeschleift werden, um mich der Bestrafung zu stellen, Julians verdrehten Begierden und Selenas Grausamkeit.

Ich zappelte wild, versuchte auf die Füße zu kommen, bereitete mich auf einen Kampf vor, obwohl ich wusste, dass es hoffnungslos war. Ein Mensch gegen Wölfe. Welche Chance hatte ich schon?

Es gelang mir, mich auf den Rücken zu drehen, die Fäuste in verzweifeltem Trotz erhoben.

Die Worte des Widerstands erstarben in meiner Kehle.

Über mir stand nicht Julian oder einer von Alpha Maxens Vollstreckern. Es war ein Wolf. Ein massiver schwarzer Wolf mit Augen, die wie flüssiges Silber in der Dunkelheit glänzten.

Ich kannte diese Augen. Ich hatte sie einmal zuvor gesehen, in der Nacht meiner Flucht – wie sie mich aus den Bäumen beobachteten, als ich das Gelände verließ.

Der Wolf, der mich hatte gehen lassen.

Er stand völlig still, seine massive Gestalt verdeckte die Sterne über mir. Kein gewöhnlicher Wolf, nicht einmal ein normaler Gestaltwandler. Diese Kreatur war enorm, ihre Schultern reichten mir leicht bis zur Brust, wenn ich stand. Sein schwarzes Fell absorbierte das Mondlicht und ließ ihn wie ein Loch im Gewebe der Nacht aussehen.

Diese silbernen Augen studierten mich mit einer Intelligenz, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

"Warum bist du hier?" flüsterte ich, meine Stimme kaum hörbar. "Warum bist du zurückgekommen, um mich zu holen?"

Der Wolf neigte seinen Kopf, als würde er meine Frage abwägen. Für einen wilden Moment dachte ich, er könnte tatsächlich antworten.

Ich hielt den Atem an, gefangen zwischen Terror und etwas anderem – etwas, das ich nicht benennen konnte, als ich in diese überirdischen Augen starrte, die direkt durch mich hindurchzusehen schienen.