Kapitel 10

Der Strahl meiner Taschenlampe flackert und wirft unheimliche Schatten über den Waldboden. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Nicht jetzt. Bitte, nicht jetzt. Ich klopfe auf das Plastikgehäuse, und das Licht wird wieder stetig.

Gott sei Dank.

Ein Windstoß fegt durch die Bäume und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Die Temperatur sinkt schnell. Ich wühle in meinem Rucksack und fische den zusätzlichen Pullover heraus, den ich aus der Omega-Lodge mitgenommen hatte. Er riecht nach Mottenkugeln und Verzweiflung, aber er ist warm. Ich ziehe ihn über meinen Kopf, dankbar für die zusätzliche Schicht.

Mein Magen knurrt schmerzhaft vor Hunger. Ich habe den Tag über Wasser getrunken und an Trockenfleisch geknabbert, aber meine Vorräte sind begrenzt. Ich kann sie nicht zu schnell aufessen.

Ich reiße ein kleines Stück Trockenfleisch mit den Zähnen ab und kaue langsam. Als wäre es Kaugummi.

Ein Fuß vor den anderen. Darauf kann ich mich jetzt nur konzentrieren. Meine Beine schmerzen, die Muskeln schreien nach Ruhe. Meine Blasen sind schon vor Meilen aufgerissen. Aber ich kann nicht anhalten. Noch nicht. Ich muss Menschen erreichen.

Der Fluss liegt hinter mir, sein rauschendes Wasser ist nur noch eine ferne Erinnerung. Ich bete, dass es ausreicht, um sie von meiner Fährte abzubringen. Nicht für immer – ich bin nicht dumm genug, das zu hoffen. Ich brauche nur Zeit.

Piper hat wahrscheinlich inzwischen bemerkt, dass ich weg bin. Der Gedanke jagt mir eine neue Welle der Panik ein. Werden sie nach mir suchen? Ein Teil von mir hofft, dass sie es tun. Dass jemand, irgendjemand, sich genug sorgt, um sich zu fragen, wohin ich verschwunden bin.

Aber das ist die alte Violet, die da spricht. Die, die noch glaubte, dazuzugehören. Jetzt weiß ich es besser.

„Lasst sie mich vergessen", murmle ich, obwohl die Worte bitter auf meiner Zunge liegen. „Das ist sowieso, was sie immer wollten."

Okay, ja. Ich habe ein bisschen Selbstmitleid, aber es ist nicht alles hoffnungslos.

Die Ironie entgeht mir nicht. Vor einer Woche hätte mich die Vorstellung, vergessen zu werden, zerschmettert. Jetzt? Es könnte meine einzige Chance auf Freiheit sein.

Jeder Schritt bringt mich weiter weg von dem Zuhause, das ich jahrelang hatte. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich Vertrauen darin habe, unter Menschen zu überleben. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie die Dinge in der Menschenwelt inzwischen funktionieren.

Der Wald wird dichter, die Bäume schließen sich um mich herum. Meine kleine Taschenlampe durchdringt kaum die Dunkelheit. Schatten tanzen am Rande meines Blickfelds und spielen meinem erschöpften Verstand Streiche.

Ein Zweig kratzt über meine Wange und zieht Blut. Ich zucke zusammen und berühre die Stelle vorsichtig. Es brennt, eine schmerzhafte Erinnerung daran, wie schlecht ich für diese Reise ausgerüstet bin. Was habe ich mir dabei gedacht? Ich bin keine Überlebenskünstlerin. Nur ein menschliches Mädchen, allein in einer Welt voller Wölfe.

Hätte ich gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hätte ich beim Training viel weniger geschludert. Obwohl, niemand hat je erwartet, dass ich auf eine Art Überlebensmission gehen würde, also hätte es vielleicht nicht viel geholfen.

Mein Fuß bleibt an einer Wurzel hängen und ich stürze zu Boden. Die Taschenlampe fliegt aus meiner Hand und klirrt gegen einen Stein. Das Licht flackert einmal, zweimal, dann erlischt es. Dunkelheit umhüllt mich.

„Nein, nein, nein", flüstere ich und krieche auf Händen und Knien. Meine Finger streifen das kalte Plastik, und ich schüttle es hektisch. Das Licht flackert wieder auf und schickt eine Welle zittriger Erleichterung durch meine Glieder.

Anders als Wölfe kann ich nicht im Dunkeln sehen.

Ich brauche dieses Licht.

Etwas klappert zu meiner Linken und ich erstarre.

Meine Augen huschen umher, suchen nach Bewegung in der tintenschwarzen Dunkelheit jenseits des Lichtkegels meiner Taschenlampe.

Nichts.

Wahrscheinlich nur ein Kaninchen. Oder ein weiteres Eichhörnchen. Ich zwinge mich, langsam auszuatmen und meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Aber der Samen des Zweifels ist gesät und wurzelt schnell im fruchtbaren Boden meiner Angst.

Ich gehe wieder los, mein Tempo ein wenig schneller als zuvor.

Ein Rascheln im Unterholz zu meiner Rechten. Ich drehe meinen Kopf herum, der Lichtstrahl tanzt wild über den Waldboden.

Wieder nichts. Aber das kribbelnde Gefühl an meinem Nacken verstärkt sich.

Du bist paranoid, Violet. Niemand folgt dir. Sie kümmern sich nicht genug, um sich die Mühe zu machen.

Der Gedanke sollte tröstlich sein, aber er dreht das Messer der Einsamkeit nur tiefer.

Eine Eule ruft in der Ferne, der Klang trägt klar durch die stille Nachtluft. Ich zucke zusammen, ein kleiner Schrei entfährt meinen Lippen, bevor ich ihn unterdrücken kann. Das Geräusch scheint zu hallen, prallt von den Bäumen ab und kommt zurück, um mich zu verspotten.

Erbärmlich.

Ich beiße die Zähne zusammen, Wut flammt heiß in meiner Brust auf. „Reiß dich zusammen", murmle ich zu mir selbst. „Du bist kein hilfloses Fräulein. Du schaffst das."

Ein fernes Heulen durchschneidet die Nacht und lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, meine Ohren angestrengt, um die Richtung zu bestimmen. Es kam von hinter mir, weit weg, aber deutlich.

Nein. Nein, das kann nicht sein. Sie suchen nicht nach mir. Sie kümmern sich nicht genug, um sich die Mühe zu machen.

Aber was, wenn doch?

Der Gedanke schickt einen frischen Schub Adrenalin durch meinen Körper. Ich beschleunige mein Tempo, ohne mich noch um Heimlichkeit zu kümmern. Meine Schritte klingen donnernd laut im stillen Wald, aber ich kann mich nicht dazu bringen, langsamer zu werden. Das Bedürfnis, Abstand zwischen mich und dieses Heulen zu bringen, übertrifft alles andere.

Zweige peitschen mir ins Gesicht, als ich mich durch das Unterholz dränge und hinterlassen brennende Kratzer. Meine Lungen brennen bei jedem keuchenden Atemzug.

Ein schweres Gewicht knallt in meinen Rücken und schlägt mir die Luft aus den Lungen. Ich schlage hart auf dem Waldboden auf, Blätter und Zweige bohren sich in meine Handflächen, während ich schreie.

Mit pochendem Herzen rapple ich mich auf und drehe mich wild um.

Ein riesiger schwarzer Wolf steht nur wenige Meter entfernt. Ein vertrautes, ätherisches Leuchten umgibt ihn und taucht die nahen Bäume in ein überirdisches Licht.

Mein Retter.

Er keucht schwer, seine Flanken heben und senken sich bei jedem Atemzug. Sein Kopf neigt sich zur Seite und betrachtet mich mit einer menschenähnlichen Neugier. In seiner Haltung liegt keine Aggression, nur... Interesse.

„Du", flüstere ich, meine Stimme kaum hörbar über dem Donnern meines eigenen Pulses.

Die Ohren des Wolfes richten sich bei dem Geräusch auf. Er macht einen Schritt näher, und ich weiche instinktiv zurück. Meine Ferse bleibt an einer Wurzel hängen und bringt mich fast wieder zum Stolpern.

Er hält inne, den Kopf jetzt zur anderen Seite geneigt. Ein leises Winseln entfährt ihm, es klingt entschuldigend.

Ich schlucke schwer und versuche, meinen Atem zu beruhigen. „Warum bist du zurück? Ich habe dir gesagt, du sollst gehen."

Aber natürlich antwortet er nicht.