Tod oder Freiheit

Ich sah den alten Mann an, der eben noch schweigend meine Stirn berührt hatte. Seine Augen ruhten ruhig auf mir, aber in meinem Kopf rasten die Gedanken.

Ich zwang mich, die Worte herauszubringen.

„Woher…?“

Meine Stimme war brüchig. Ich schluckte. Dann fester:

„Woher wisst ihr, dass sie eine Wölfin ist?“

Er drehte den Kopf langsam zu Fenris, die noch immer schweigend im Schatten der Tür stand, die Arme verschränkt. Ihre Haltung war aufrecht, stolz – und doch spürte ich, dass sie bereit war, zu kämpfen oder zu fliehen, je nachdem, was der Alte sagte.

Er lächelte sanft, dann sah er zurück zu mir.

„Ich habe viele Winter gesehen. Und viele Wesen. Manche waren Menschen, die vorgaben, Götter zu sein. Manche waren Wölfe mit einem Menschenherzen.

Aber sie?“

Er nickte langsam.

„Sie trägt den Geruch alter Zeiten. Ihr Blick hat Tiefe, wie der eines Ahnen. Sie ist kein Tier, kein Mensch – sie ist zwischen den Welten. So etwas übersieht man nicht, wenn man lange genug gelebt hat.“

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildete. Ich sah zu Fenris – sie hielt meinem Blick stand, aber in ihren Augen war jetzt etwas Weiches. Fast so, als wäre sie erleichtert, dass jemand sie erkannt hatte.

Dann wandte ich mich wieder dem alten Mann zu.

„Und… woher wisst ihr… dass ihr Blut in mir kreist?“

Er legte mir die Hand auf die Brust, über meinem Herzen.

„Weil du nicht tot bist.“

Stille.

„Weil kein Mensch mit einer solchen Wunde, so viel Blutverlust, so tiefem Schock einfach aufwacht. Nicht ohne… einen Funken. Einen fremden Strom in sich.

Und du brennst. Nicht sichtbar. Aber spürbar.“

Ich atmete schwer.

„Wie gut… sind meine Überlebenschancen?“

Der Alte seufzte leise.

„Das hängt davon ab, wer du sein willst.“

Er trat zum Regal, nahm ein kleines Holzgefäß, öffnete es – darin ein bitter riechendes Pulver.

„Wenn du dich wehrst – gegen das, was sich in dir verändert – wirst du zerbrechen.

Aber wenn du lernst, es zu führen…

Wenn du verstehst, dass der Wolf in dir kein Feind ist…

Dann wirst du nicht nur überleben. Du wirst stärker zurückkehren, als du je warst.“

Ich nickte langsam. Es war keine Antwort in Zahlen. Keine Diagnose. Aber es war genug.

Dann sah ich zu Fenris.

„Wie schlimm ist sie verletzt? Heilt sie… schnell?“

Der Heiler blickte zu ihr – und Fenris trat nun einen Schritt näher, offenbar bereit, auch das zu zeigen. Sie schob den Ärmel hoch. Die Wunde war noch da. Groß, tief – aber sie hatte sich bereits begonnen zu schließen. Die Ränder waren nicht mehr offen, sondern von innen her dunkelrot vernarbt.

„Ihr Körper heilt schneller als eurer“, sagte der Alte. „Aber diese Wunde… ist mehr als nur Fleisch.

Sie hat ihre Kraft geteilt. Einen Teil ihrer Essenz. Solche Wunden heilen langsamer, weil sie nicht nur den Körper betreffen – sondern die Bindung zwischen zwei Seelen.“

Ich sah sie an.

Sie hatte gelitten, um mich zu retten.

Fenris sah mich lange an.

„Ich werde heilen. Aber was mit dir geschieht… entscheidet sich in den nächsten Nächten.“

Der alte Mann hatte mir einen bitteren Tee gegeben. Etwas mit Fichtennadel, Blutwurz und etwas, das wie verbrannte Erde schmeckte. Ich trank ihn. Nicht, weil ich daran glaubte – sondern weil ich nichts anderes mehr hatte.

Fenris saß am Rand der Bank, nur eine Armlänge entfernt. Ich spürte ihre Wärme, ihren Blick – auch wenn sie schwieg.

Dann kam das Fieber.

Die Hitze war keine Flamme. Kein Schmerz wie der Biss. Es war mehr wie ein inneres Dröhnen. Als ob etwas Altes unter meiner Haut erwachte. Etwas, das lange geschlafen hatte.

Ich schwitzte, zitterte. Mein Herz raste.

Und dann…

War ich woanders.

Ich stand in einem Wald, den ich nicht kannte – und doch kannte ich jeden Baum. Ich spürte den Wind in meinem Fell. Mein Fell.

Ich sah nicht mit menschlichen Augen.

Ich roch den Wald. Ich hörte ihn atmen.

Und dann war da eine Stimme. Keine laute, sondern eine, die direkt in mir sprach – alt, sanft, ehrlich.

> „Du hast Angst. Das ist gut. Angst zeigt dir, dass du lebst.“

Ich blickte in den Nebel. Eine Gestalt trat heraus – es war Fenris, aber nicht wie zuvor. Nicht als Frau. Nicht als Wölfin.

Sie war beides.

Sie war ganz.

> „Wie kannst du den Wolf in dir akzeptieren?“

„Indem du ihn nicht bekämpfst wie einen Feind – sondern ihn ansiehst, wie einen Bruder, der lange vergessen war.“

Ich fiel auf die Knie. „Aber ich habe Angst… Was, wenn ich mich verliere?“

> „Du verlierst nur das, was nie wirklich zu dir gehörte. Der Rest – das, was in deinem Blut erwacht – ist dein eigentliches Selbst.“

> „Wie du weißt, dass du die richtige Entscheidung triffst? Trotz Schmerz?“

> „Weil der Schmerz dich nicht zurückhält. Er macht dich langsamer, ja. Aber du gehst weiter.“

Ich hob den Kopf. Ihre goldenen Augen sahen mich an – nicht als Opfer. Nicht als Fremder.

Sondern als einer von ihnen.

> „Du bist auf dem Weg“, flüsterte sie. „Und der erste Schritt war nicht der Biss. Es war, dass du mich gesucht hast, obwohl du Angst hattest.“

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Ich wachte auf. Schweißgebadet. Mein Atem raste.

Fenris saß noch immer da. Ihre Hand ruhte auf meinem Verband. Sie sah mich an – wissend.

„Du warst da, nicht wahr?“ flüsterte ich.

Sie nickte nur.

Ich verstand. Der Schmerz war noch da.

Aber ich hatte ihn durchquert.

Und das bedeutete alles.