Die Nacht legte sich schwer über die Hütte. Der Heiler hatte einen Platz für uns vorbereitet – auf dem Boden, in Fellen, mit Kräutern, die leise im Feuer knisterten.
Fenris lag nicht weit entfernt. Wache.
Ich spürte ihren Blick, lange, bis meine Lider zu schwer wurden.
Und dann fiel ich in den Schlaf.
Aber es war kein gewöhnlicher Schlaf.
Es war, als würde ich durch Wasser sinken – schwerelos und doch voller Druck. Und dann stand ich dort.
Auf einem weiten, stillen Feld. Unter mir gefrorener Boden. Über mir ein Himmel, in dem keine Sterne standen – sondern Augen.
Und dann bebte die Erde.
Ein Schatten erhob sich am Horizont. So gewaltig, dass selbst Berge dagegen klein wirkten. Eine Silhouette wie aus uralter Zeit, zerschlissen von Ketten, aber nicht gebrochen.
Fenrir.
Nicht als Monster. Nicht als Zerstörer.
Sondern… als Kraft. Als Natur.
Er kam näher. Und mit jedem Schritt wurde ich kleiner – nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht.
Ich kniete nieder.
Er sprach nicht mit Worten. Doch ich verstand.
> „Du trägst mein Blut.
Doch du bist nicht ich.
Du bist ein Zweig. Ein neuer Pfad.
Und was du wirst, entscheidet nicht mein Wille –
sondern deiner.“
Ich sah auf meine Arme – da war Licht unter der Haut. Bewegte sich. Wie silberne Adern. Wie flüssiger Mond.
> „Wenn du vergessen willst, wer du warst – gut.
Aber erinnere dich daran, wer du sein willst.“
Dann kam der Wind. Stark. Wild. Voller Stimmen – von Wölfen, von Menschen, von jenen dazwischen.
Und ich wachte auf.
---
Meine Augen sprangen auf. Ich atmete heftig. Und spürte… alles.
Der Wald draußen. Das Atmen von Fenris, ruhig aber wachsam.
Das Feuer, wie es knisterte.
Ich konnte jede Flamme hören, jede Bewegung draußen im Schnee.
„Fenris…“
Meine Stimme war ruhig.
„Etwas hat sich verändert.“
Sie sah mich an. Blinzelte leicht. Dann roch sie an der Luft.
„Du hörst es.“
Ich nickte langsam.
„Ich höre… den Schnee. Ich höre das Herz des Waldes. Ich weiß nicht, wie – aber ich weiß.“
Sie trat näher, legte zwei Finger an meinen Hals. Fühlte den Puls.
Dann nickte sie, zufrieden – und doch ernst.
„Dein Körper beginnt, das Erbe zu tragen. Der Übergang beginnt.“
Doch dann drehte sie sich zur Tür. Ihre Augen wurden schmal.
„Aber du hörst nicht nur, was nah ist…
Du hörst auch, was kommt.“
Ich spürte es.
Etwas. Groß. Nicht freundlich. Kein Tier – aber auch kein Mensch.
Ein Jäger.
Ein Wesen, das mein neues Blut gerochen hatte.
Fenris sah mich an.
„Wir müssen los. Der Wald hat uns geweckt – und er hat es auch gespürt.“
Fenris lauschte dem Wind. Ihr Blick war schärfer als Stahl, ihr Körper angespannt wie ein gespannter Bogen.
„Wir haben nur wenig Zeit. Das, was dich riecht, wird nicht fragen, wer du bist. Es wird dich prüfen – oder vernichten.“
Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war trocken. Und dennoch – ich zitterte nicht. Nicht vor Angst. Nicht mehr.
„Wohin?“ fragte ich.
„Zu einem alten Ort“, sagte Fenris. „Einer, der älter ist als ich. Ein Tempel, der den ersten Wandlern geweiht wurde. Wölfe, Menschen, Götter dazwischen.
Dort… kann dein Blut das werden, was es werden muss.
Aber wir gehen nicht allein.“
Ich runzelte die Stirn.
Fenris trat zur Tür, streckte zwei Finger in den nächtlichen Nebel hinaus – und stieß einen Ruf aus. Kein Heulen. Kein Laut eines Menschen. Etwas anderes.
Ein Ruf, der durch Zeit und Knochen ging.
Und dann… kam Antwort.
---
Drei Tage später.
Wir waren tief im Norden. Keine Straßen mehr. Keine Schilder. Nur Eis, Fels, Wind und das Geräusch meiner eigenen Verwandlung, das tief in mir grollte.
Fenris führte mich, und wir waren nicht mehr allein.
Zwei weitere Wandler hatten uns getroffen – stumm, mit seltsamen Augen, Witterungssinn und uraltem Wissen.
Der eine war wie ein Bär gebaut, mit moosfarbenem Blick und Runen auf der Brust. Der andere – schmal, grauhaarig, mit einem Adlerblick, der jede Bewegung vorhersah.
Sie redeten wenig. Aber sie akzeptierten mich.
Nicht, weil ich bereit war – sondern weil Fenris für mich sprach. Und das reichte ihnen.
Der Tempel lag unter dem Eis.
Vergraben, vergessen – und doch lebendig.
Alte Steine, durchzogen von Krallenrillen.
Schatten an den Wänden, die sich bewegten wie Atem.
Im Zentrum:
Ein Kreis aus schwarzen Wolfsschädeln. Und darüber – eine leere Steinplatte, die noch immer das Gewicht derer trug, die vor Jahrhunderten dort lagen und sich entschieden:
Mensch.
Wolf.
Oder beides.
Fenris trat in die Mitte. Sah mich an.
„Ab hier… kann ich dich nur beobachten.
Dein Blut wird antworten – oder schweigen.
Aber was auch geschieht… ich bleibe.“
Ich trat langsam in den Kreis.
Kaum stand ich dort, bebte der Boden leicht. Kein Erdbeben. Etwas anderes.
Als hätte der Tempel mich bemerkt.
Ich kniete mich hin. Spürte die Kälte des Steins. Schloß die Augen.
Und dann kam es.
Ein Heulen. Aus der Tiefe. Kein Laut der Lebenden – sondern ein Chor von Stimmen, die einst wandelten wie ich.
Sie riefen nicht, um zu warnen.
Sie riefen, um mich willkommen zu heißen