Der kalte Stein unter mir war still – und doch schien er zu atmen.
Ich schloss die Augen.
Die Welt verschwand.
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Ich stand im Dunkeln.
Kein Himmel, kein Boden – nur Raum.
Vor mir – drei Pfade.
Drei Bilder, lebendig wie Erinnerungen, geformt aus Licht, Rauch und Schatten.
🔻 Der erste zeigte mich selbst – menschlich, allein, in einer Wohnung in Deutschland.
Leere Augen. Routine. Immer derselbe Kaffee. Dieselbe Bahn. Dieselbe Müdigkeit.
Sicher. Aber tot.
Ich sah zu, wie ich älter wurde. Grauer.
Und nie einmal wirklich lebte.
🔻 Der zweite Pfad war wild. Ich war Wolf – nicht Mensch. Ich rannte, jagte, tötete.
Ich spürte Stärke, Freiheit – doch auch Einsamkeit. Kein Halt. Keine Erinnerung.
Ich war getrieben.
Kein Ziel, nur Hunger.
Ein Raubtier ohne Namen.
🔻 Der dritte Pfad war schwer zu sehen.
Dunkel, vernebelt – aber in der Mitte stand ich.
Beide Hände blutig.
Ein Teil meines Gesichts menschlich, der andere pelzig.
Ich sah aus wie beides – aber nicht sicher, nicht friedlich.
Ich zitterte.
Ich zweifelte.
Aber ich stand.
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Eine Stimme durchdrang alles:
> „Welchen Weg wählst du, Suchender?“
Ich zitterte. Sah noch einmal auf die Bilder.
„Keinen dieser Wege ist leicht.“
> „Kein Pfad, der dich verändert, ist es je.“
Dann kam eine andere Stimme – vertraut.
Fenris.
> „Du musst einen Teil von dir zurücklassen.
Etwas, das dich schwächt.
Etwas, das du nicht mehr brauchst.“
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Vor mir erschien eine Kiste.
Schlicht.
Alt.
Verschlossen mit einem einzigen Lederriemen.
Ich trat näher.
Meine Hände zitterten.
Und plötzlich wusste ich, was darin war:
> Die Erinnerung an meine alte Liebe.
Der Schmerz, den ich nie losgelassen hatte.
Die Enttäuschung an die Welt, die mich so lange gelähmt hatte.
Das war es, was mich leer gemacht hatte.
Ich griff nach dem Riemen.
Zögerte.
Dann: Ich band ihn los.
Als der Deckel aufsprang, stieg Licht auf – warm und weich. Und mit ihm… Stille.
Keine Schuld mehr.
Kein Zorn.
Nur… Raum.
Raum für das, was ich werden konnte.
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Ich erwachte mit einem Ruck.
Der Tempel bebte leise. Die Wölfe ringsum hatten sich erhoben.
Fenris trat zu mir.
Ich atmete tief.
Langsam.
Stabil.
„Es ist geschehen“, sagte ich.
„Ich habe gewählt. Und ich habe losgelassen.“
Sie sah mich an – nicht stolz. Nicht erhaben.
Sondern ehrlich.
Zugehörig.
„Dann beginnt dein wahres Leben jetzt.“
Der Tempel hatte geschwiegen.
Aber jetzt, da ich erwacht war, erhob sich ein Laut.
Nicht laut.
Nicht wild.
Ein einziges, tiefes Heulen – von irgendwo weit, weit unten.
Als ob die Wurzeln der Erde selbst mich riefen.
Der große Wandler mit den Runen trat vor mich. In seiner Hand hielt er eine Kette aus Tierzähnen, eingefasst mit einem einzigen Zahn aus schwarzem Stein.
Er sprach mit heiserer Stimme:
> „Du hast gewählt. Du hast losgelassen.
Du hast das Alte geehrt und das Neue nicht gefürchtet.“
Er legte mir die Kette um.
Der Zahn lag schwer auf meiner Brust.
> „Du bist nicht mehr namenlos.“
„Von heute an wirst du gerufen… Kael Fenrirsson.
'Der, der den Schatten trägt und das Rudel schützt.'“
Fenris trat zu mir.
Ich sah Erleichterung – und… etwas anderes.
Sie war stolz. Aber es lag auch Schmerz in ihrem Blick.
Bevor ich fragen konnte, bebte der Boden. Diesmal nicht aus Magie.
Etwas kam.
Etwas, das den Wald durchschnitt wie Feuer durch Eis.
Die anderen Wandler sahen sich an. Kein Befehl. Kein Wort. Nur Instinkt.
Fenris zog mich zur Seite.
„Es hat uns gefunden. Der Jäger. Ich spürte ihn schon, als wir losgingen.“
Ein Laut, irgendwo draußen – kein Heulen.
Ein Grollen.
Wie von zerbrechendem Eisen.
Dann sah ich ihren Blick. Und wusste – jetzt kam die Wahrheit.
„Bevor du kämpfst… musst du es wissen“, sagte Fenris.
„Mein Blut… ist nicht nur heilig. Es ist gebunden.“
Ich starrte sie an.
„Gebunden… an was?“
Sie atmete tief.
„An meine Seele. Jeder, der es erhält, nimmt ein Stück davon mit sich.
Wenn du stirbst… stirbt ein Teil von mir.
Wenn du tust, was gegen dein Herz ist… zerreißt es mich.
Ich habe dich nicht nur gerettet.
Ich habe mich mit dir verbunden.“
Ich wich einen Schritt zurück – nicht aus Angst. Sondern aus Ehrfurcht.
„Warum hast du es dann getan?“
Fenris’ Stimme war ruhig.
„Weil ich sah, was du nicht sahst:
Dass dein Herz nicht leer war.
Es war still, weil es auf den Ruf gewartet hat.“
Dann kam er.
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Der Jäger.
Ein Wesen, das einst ein Mensch gewesen sein musste – jetzt entstellt, zu lang, zu knochig, zu schnell. Die Haut spannte sich über Zähne, die aus dem ganzen Körper ragten.
Kein Rudel. Kein Atem. Kein Verstand.
Nur Hunger.
Er hatte Fenris’ Blut gerochen. Und wollte es.
Ich trat vor.
Mein Herz raste.
Aber ich war nicht allein.
Fenris an meiner Seite.
Die Kette auf meiner Brust.
Der Tempel in meinem Rücken.
Der Wolf in meinem Blut.
Er sprang.
Ich wich aus – schneller als ich je war.
Ich spürte, wie sich mein Rücken spannte, meine Fingernägel krallten.
Ich war noch nicht verwandelt.
Aber ich war nicht mehr nur Mensch.
Ich schlug zurück – mit allem, was ich war.
Und hinter mir hörte ich Fenris heulen.
Nicht aus Wut.
Sondern als Antwort.
Wir waren eins.
Und wir standen nicht mehr allein.
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Der Kampf war kurz.
Aber nicht leicht.
Am Ende lag der Jäger still.
Das Rudel hatte überlebt.
Weil ich dazugehörte.
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Später, in der Dämmerung, saßen wir am Feuer.
Fenris neben mir, erschöpft, aber friedlich.
Ich sah sie an.
„Was jetzt, Fenris?“
Sie lächelte.
„Jetzt beginnt dein wahres Leben.“