Einige Tage später
Die Kälte hatte euch verlassen.
Ihr wart weitergezogen – tiefer in die norwegische Wildnis, an einen Ort, den nur Fenris kannte.
Ein alter Unterschlupf, in einer Schlucht verborgen.
Ein Haus aus Stein, Holz und Wurzelwerk – nicht gebaut, sondern gewachsen.
Hier… begann mein Training.
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Die Verwandlung
Sie kam zuerst in Träumen.
Ein Ohr, das sich schärfte.
Eine Stimme, die tiefer wurde.
Augen, die nachts sahen.
Fenris beobachtete jede Regung.
Wenn ich zu schnell zu viel wollte – stoppte sie mich.
„Das Tier in dir folgt nicht dem Verstand.
Es folgt dem Herz. Und dem Atem.
Du kannst es nicht zwingen.
Du musst es bitten.“
Ich übte bei Vollmond – nackt in der Kälte, zitternd, atmend, horchend.
Sie saß dabei, schweigend, nur die Augen auf mich gerichtet.
Als ich das erste Mal fast die Gestalt wechselte, fiel ich auf die Knie, schreiend, brennend.
Doch sie fing mich auf.
Mit Armen.
Mit Worten.
Mit ihrem Blick.
> „Nicht du wirst Wolf,
sondern der Wolf wird du.“
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Zwischen uns
Die Nähe war zuerst gefährlich.
Fenris war nicht einfach eine Frau. Sie war Kraft. Instinkt. Kampf. Ruhe.
Sie war gefährlich… und schön.
Ich fragte mich oft, was ich für sie war.
Ein Schüler?
Ein Bündnis?
Ein Fehler?
Oder mehr?
Aber sie blieb.
Sie wich nicht.
Sie schützte mich.
Sie sah mich.
Manchmal, wenn das Feuer knisterte und sie neben mir schlief, fragte ich mich, wie nah wir schon waren –
und wie viel noch fehlte.
Eines Nachts saßen wir gemeinsam unter den Nordlichtern.
Ich fragte leise:
„Hast du vor, zurückzugehen? Zu deinem alten Leben?“
Sie antwortete nicht sofort.
„Ich hatte nie ein Leben“, sagte sie schließlich.
„Ich war immer unterwegs. Immer anders. Immer allein.
Aber mit dir…
fühlt es sich an wie ein Anfang.“
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Die verlorenen Blutlinien
Ich fragte sie später:
„Du hast gesagt, es gibt verlorene Blutlinien.
Was meinst du damit?“
Fenris wurde still.
Dann sagte sie:
„Nach Fenrir kamen viele.
Nicht alle waren Wölfe.
Nicht alle waren gut.
Einige trugen das Blut wie eine Waffe.
Andere vergruben es – aus Angst.
Doch es gibt noch Nachfahren.
Verstreut.
Verloren.
Unerwacht.“
Ich schluckte.
„Und wenn sie erwachen?“
„Dann stehen sie vor denselben Fragen wie du.
Nur ohne Führung.
Ohne mich.“
Sie sah mich ernst an.
„Deshalb musst du lernen, zu führen.
Nicht nur dich.
Vielleicht eines Tages… auch andere.“
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Und da wusste ich:
Das hier war keine Geschichte von einem Fluch.
Es war die Geburt einer neuen Linie.
Einer, die nicht nur jagt.
Sondern schützt.
Nicht nur verwandelt.
Sondern verbindet.
Es war eine stille Nacht.
Der Himmel war klar, die Nordlichter tanzten wie Zeichen, die niemand außer uns lesen konnte.
Ich saß vor dem Feuer, nackt bis zur Haut, dampfend vom Training, meine Brust hob und senkte sich schwer.
Fenris kam aus der Dunkelheit.
Sie setzte sich neben mich, wie sie es oft tat.
Nicht zu nah. Aber nah genug, dass ich ihren Herzschlag hören konnte, wenn ich lauschte.
Ich fragte:
> „Fenris… was bringt die Wolfsseele überhaupt dazu, zu erwachen?
Warum jetzt? Warum… ich?“
Sie schwieg.
Dann sprach sie, langsam:
> „Die Wolfsseele lebt in vielen.
Nicht alle wissen es.
Nicht alle werden je gerufen.
Aber wenn etwas in der Welt zerreißt –
wenn der Mensch sich verliert,
wenn die Seele keinen Halt mehr findet,
dann ruft sie.
Die Wolfsseele erwacht,
nicht weil sie muss –
sondern weil sie gebraucht wird.“
Ich starrte in die Glut.
„Und bei mir… war’s die Leere?“
Sie nickte.
„Du warst leer, weil die alte Form zu klein geworden war.
Der Wolf kam nicht, um dich zu zerstören –
er kam, um dich ganz zu machen.“
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Dann kam die Nacht der Verwandlung.
Ich spürte es schon am Nachmittag – mein Puls war tiefer, die Luft schärfer, Geräusche zu laut, der Boden zu weich.
Mein Körper vibrierte, jede Faser wie ein gespannter Bogen.
Fenris bereitete den Kreis.
Alte Zeichen, Blut auf Fels, Asche aus Eichenholz.
„Heute stirbt deine alte Haut“, sagte sie.
„Und du wirst sehen, was dein Blut wirklich will.“
Ich trat nackt in den Kreis.
Fenris trat zurück.
Sie war nicht meine Hilfe – sie war meine Wurzel.
Ich schloss die Augen.
Und ließ los.
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Dann kam der Riss.
Kein Schmerz wie ein Schnitt.
Sondern wie ein inneres Bersten.
Meine Finger verformten sich – Gelenke knackten, Haut spannte sich, Muskeln brannten.
Die Welt wurde Duft.
Bewegung.
Klang.
Ich wurde Wolf.
Aber nicht Tier.
Ich war beides.
Ganz.
Fließend.
Stark.
Ich sah Fenris.
Sie trat zu mir – nicht überrascht, sondern ruhig, wie jemand, der wusste, was da in mir geboren wurde.
Sie streckte die Hand aus.
Ich senkte den Kopf.
Und sie legte ihre Stirn an meine –
wie damals.
Nur diesmal… waren wir beide Wölfe.
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In der Stille danach, am Feuer, als ich mich zurückverwandelte, lag ich in ihren Armen.
Sie streichelte meinen Nacken.
Und ich fragte:
> „Was sind wir jetzt, Fenris?“
Sie schwieg lange.
Dann sagte sie:
> „Keine Lehrerin mehr.
Kein Schatten mehr.
Nicht nur Blut.
Wir sind Rudel.
Und wenn du willst…
auch Herz.“