Die Sonne stand hoch, aber das Licht fühlte sich falsch an.
Blass.
Fern.
Wie durch Milchglas.
Wir liefen – Fenris vorne, ich dicht hinter ihr.
Ihr Körper bewegte sich mit flacher Kraft, jeder Muskel in Spannung, jede Bewegung ein Versprechen.
Neben uns knisterte der Wald wie atmender Atem.
> „Wie viele?“
fragte ich, ohne aus dem Takt zu kommen.
> „Zwei“, sagte Fenris.
„Lysa… und Raek.“
Ihr Ton war scharf, aber nicht aus Angst.
Es war die Stimme einer Wölfin, die nicht zuließ, dass jemand aus dem Rudel verloren ging.
Nicht noch einmal.
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Der Ort
Wir fanden sie im Schatten eines Hügelgrats.
Steine lagen wie zerbrochene Runen im Moos, und darunter… knieten sie.
Raek.
Lysa.
Ihre Körper zitterten, aber sie bluteten nicht.
Ihre Augen waren geöffnet – und doch leer.
Sie sprachen.
Nicht mit uns.
Mit etwas anderem.
> „Er kommt…
Der Erste von denen, die bluten ohne Wunde.
Die Kette wird sich lösen…
und alle Knochen erinnern sich.“
Fenris erstarrte.
> „Das ist kein eigener Ruf“, sagte sie leise.
„Das ist… altes Blut.“
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Die Zeichen
Ich kniete mich zu Raek.
Sein Gesicht war schweißnass, seine Haut zuckend.
Ich spürte Hitze unter den Fingerspitzen.
Seine Stirn war wie Feuer – kein Fieber, sondern… Energie.
> „Sie sind verbunden“, flüsterte ich.
„Nicht durch das Rudel.
Sondern durch… ihn.“
Fenris trat hinter mich.
> „Der Blutmond flüstert.
Und nicht nur an die Oberfläche.“
„Er spricht zum innersten Teil…
zu der Bestie,
die selbst wir vergessen haben.“
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Der Plan
> „Wir müssen sie trennen“, sagte ich.
„Wenn sie weiter so… hören, dann verlieren wir sie.“
Fenris nickte.
> „Bring Raek weg. Ich kümmere mich um Lysa.“
> „Und wenn sie… angreifen?“
Fenris sah mich an – und in ihren Augen war keine Furcht.
Nur Pflicht.
> „Dann greifen wir nicht zurück.
Dann stehen wir.
Und halten sie…
bis sie zurückkommen.“
Ich nickte.
Und begann, Raek aus der Trance zu ziehen – seine Glieder zuckten, seine Stimme murmelte Wörter in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber in meinen Knochen spürte.
Runisch.
Vergessen.
Ewig.
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Ein Ruf aus der Tiefe
In dieser Nacht schlief niemand.
Raek lag fiebernd im Schutz einer Höhle, Lysa am Feuer, schreiend im Schlaf.
Fenris wachte.
Ich saß bei ihr.
Ich konnte ihre Müdigkeit riechen – aber sie ließ sich nichts anmerken.
Ihr Blick war auf den Wald gerichtet.
> „Das ist kein Zufall“, sagte sie schließlich.
„Diese Worte, die Lysa sprach…
sie stammen aus dem Codex Fenria.“
> „Dem was?“
> „Es ist eine Sammlung.
Von Zeichen, Namen, Versen…
die wir nicht mehr sprechen.
Weil sie nicht geschrieben wurden – sondern
gebrüllt.“
Ich fröstelte.
> „Du meinst… von Fenrir selbst?“
Fenris nickte.
> „Vor dem Biss. Vor der Kette.
Er war nicht nur Wut.
Er war Stimme.
Und einige sagen…
er sang die Welt wach.“
> „Aber wenn diese Verse zurückkehren…
dann erwacht etwas,
das länger geschwiegen hat als der Tod selbst.“
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Die Begegnung
Am nächsten Morgen war Raek verschwunden.
Lysa bewusstlos.
Wir fanden seine Spur.
Kein Laufen.
Kein Rennen.
Er war gegangen – in aller Ruhe, ohne Waffen, ohne Proviant.
Nur mit einem Zeichen in den Schnee getrampelt:
Ein Kreis.
Und darin drei Striche – wie Krallen.
Fenris blieb stehen.
> „Er geht…
zur Quelle.“
> „Was ist die Quelle?“
> „Ein Ort.
Ein Abgrund.
Manche nennen ihn den Spiegel.
Weil er dich zwingt, dich selbst zu sehen.“
> „Dort“, sagte sie, „werden Wandler entweder ganz…
oder
geboren neu als Monster.“
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Der Weg dorthin war ein Marsch durch die Geschichte
Wir durchquerten Nebelwälder, in denen kein Vogel sang.
Überquerten gefrorene Seen, unter deren Eis uralte Knochen lagen.
Fenris sprach wenig.
Aber eines Nachts, als wir lagerten, nur wir beide am Feuer, sagte sie:
> „Kael…
Ich war einmal dort.
Bei der Quelle.“
Ich sah sie an.
> „Du… hast sie überlebt?“
> „Nein.
Ein Teil von mir ist dort gestorben.
Der Teil, der glaubte, alleine zu genügen.“
Sie zog die Knie an, sah in die Glut.
> „Ich hörte Stimmen.
Ich sah meine Mutter.
Ich sah den Tod.
Und ich sah… mich selbst.
Mit blutigen Zähnen.
Und ich wählte,
nie wieder allein zu sein.“
Sie sah mich an.
Und ihr Blick sagte alles.
> „Deshalb… bist du hier.
Nicht als Wächter.
Als mein Spiegel.“
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Der Abstieg
Am fünften Tag kamen wir an.
Die Quelle lag tief in einer Felsspalte – umgeben von schwarzgrünen Steinen, aus denen warmer Dampf stieg.
Raek kniete am Rand.
Nackt.
Sein Rücken zu uns.
Er sang.
Nicht laut.
Nicht menschlich.
Die Melodie war so alt, dass selbst Fenris zitterte.
> „Wir sind zu spät“, flüsterte sie.
„Er ist… verbunden.“
Aber ich trat vor.
Ich ließ meine Angst fallen wie ein altes Fell.
> „Raek.“
Nichts.
> „Du bist nicht allein.“
Er drehte sich langsam.
Seine Augen waren silbern.
Kein Weiß. Kein Pupille.
> „Ich…
habe ihn gesehen.“
> „Wen?“
> „Den, der kommen wird.
Der euch zerreißt.
Und der sich Kael nennen wird…
wenn er vergißt.“
Fenris packte meinen Arm.
> „Er spricht von dir.“
> „Oder von dem, was ich werde…
wenn ich versage.“
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Die Entscheidung
Ich trat an ihn heran.
Ich legte meine Stirn an seine.
Und flüsterte nur einen Satz:
> „Du bist nicht Kette.
Du bist Teil.
Und wir lassen niemanden zurück.“
Etwas zuckte in ihm.
Ein Schrei.
Dann brach er zusammen.
Ich fing ihn auf.
Fenris stürmte zu mir.
Zusammen zogen wir ihn aus der Quelle.
Und der Nebel…
brach.
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Der Rückweg
Raek schlief tagelang.
Als er erwachte, weinte er.
Und sagte nur:
> „Ich habe mich selbst gesehen.
Und ihr wart da.
Ihr habt mich gehalten,
als ich fiel.“
Fenris und ich wechselten einen Blick.
> „Du hast uns zurückgerufen“, sagte sie.
„Und dafür danken wir dir.“
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In der Nacht:
Fenris kam zu mir, während ich Wache hielt.
Sie sagte kein Wort.
Stellte sich einfach vor mich.
Nah.
Still.
Dann zog sie mich in sich.
Langsam.
Echt.
Kein Hunger.
Nur Nähe.
Nur… Wir.
Und als der Blutmond aufging –
war ich nicht allein.
Nicht mehr.