Der Wind war kalt, schneidend und fremd. Er trug den Geruch von altem Eis und verborgenen Erinnerungen, die lange Zeit eingeschlossen waren, tief unter dem Fjord und dem gefrorenen Wald. Fenris stand am Rand unseres Lagers, den Blick zum blutroten Himmel erhoben, während ich neben ihr die Kälte in meinen Knochen spürte.
„Du spürst es auch, oder?“ fragte ich leise.
Fenris nickte kaum merklich. „Etwas ist erwacht. Etwas, das nicht hierher gehört. Und es sucht dich.“
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, als wir uns ohne ein Wort auszutauschen, bereit machten, dem Ruf zu folgen. Es gab kein Zurück mehr.
Der Wind hatte sich gedreht.
Nicht nur von Nord nach Süd. Nicht einfach so.
Er war anders geworden. Schwer.
Als trüge er Erinnerungen, die zu lange unter Eis und Erde geschlafen hatten.
Ich stand am Rand des Lagers, den Blick in die Dämmerung gerichtet. Fenris war schon vor mir wach gewesen. Sie bewegte sich nicht. Sie beobachtete. Ihre Nasenflügel bebten leicht, als würde sie in der Luft lesen, wie andere in alten Büchern.
„Du spürst es auch, oder?“, fragte ich leise.
Sie antwortete nicht sofort. Dann ein kaum merkliches Nicken.
> „Etwas ist wach geworden.
Und es sucht nicht irgendwen.
Es sucht dich.“
Ich schluckte.
Mein Magen zog sich zusammen, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen.
Aber das war kein Magen.
Das war mein Inneres.
Etwas in mir hatte den Ruf gehört – noch bevor Fenris es ausgesprochen hatte.
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Die erste Spur
Wir brachen noch vor Sonnenaufgang auf. Raek begleitete uns, Lysa blieb im Lager zurück.
Fenris lief voraus, wie immer in menschlicher Form, barfuß durch Schnee und gefrorenes Moos. Ihre Schritte waren leicht, fast lautlos.
Sie war angespannt, aber nicht ängstlich.
Bereit.
Ich dagegen spürte jeden Muskel, jede Unsicherheit, als würden sie laut durch den Wald schreien:
> Ich bin kein Wolf. Noch nicht. Vielleicht nie.
Nach Stunden entdeckten wir die erste Spur.
Ein Elch, tot, aufgerissen, aber nicht gefressen.
Seine Augen fehlten.
Auf seiner Brust eingeritzt: eine einzelne Rune.
ᚦ – Thurisaz.
Raek trat einen Schritt zurück.
Fenris kniete sich hin und starrte auf das Zeichen.
> „Das ist kein Zufall.
Es ist ein Ruf.
Eine Erinnerung.“
„An was?“, fragte ich.
Sie sah mich an.
Ihr Blick war fremd, als wäre sie weit weg – oder tief in sich selbst versunken.
> „An etwas, das Fenrir kannte.
An das, was ihn beinahe zerbrach.“
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Der See
Wir folgten der Spur bis zu einem gefrorenen See, versteckt zwischen Hügeln.
Der Wind hatte sich wieder verändert.
Jetzt war er still.
Zu still.
In der Mitte des Sees war ein dunkler Fleck.
Ein Loch.
Raek deutete mit zwei Fingern darauf.
> „Etwas kam von unten.
Dann stieg es auf.
Und ging wieder hinab.“
Wir näherten uns vorsichtig.
Fenris’ Körper spannte sich, wie ein Seil, das gleich reißt.
Ich hörte mein eigenes Herz schlagen.
Dann – ein Geräusch.
Kratzen.
Von unten.
Unter dem Eis.
Kralle auf Kristall.
> „Zurück!“, rief Fenris –
doch es war zu spät.
Das Eis zerbarst.
Etwas schoss heraus –
Nicht Mensch.
Nicht Wolf.
Nicht Schatten.
Etwas Dazwischen.
Es war groß. Breitschultrig. Halb in Fell, halb in Eis gehüllt.
Sein Gesicht war entstellt – als wäre es in der Vergangenheit gefroren und in der Zukunft wieder erwacht.
Seine Stimme war tief, brüchig,
… vertraut?
> „Kael...“
„Du bist spät.“
Ich wollte rufen: Wer bist du?
Aber mein Körper gehorchte nicht.
Er kannte meinen Namen.
Und in seinen Augen sah ich…
mich selbst.
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Fenris greift ein
Fenris war schneller als mein Herzschlag.
Sie sprang in die Luft, verwandelte sich im Sprung, ihr silbernes Fell blendete im Mondlicht.
Sie traf die Kreatur mit voller Wucht.
Es taumelte, fiel, brüllte – ein Laut wie berstendes Gestein.
Aber es lachte.
> „Schon wieder du, Fenris.
Immer kämpfst du gegen das, was du selbst erschaffen hast.“
Ich verstand nichts.
Oder ich wollte nicht verstehen.
Fenris kämpfte wie eine Furie.
Aber das Wesen war nicht nur stark.
Es war… alt.
Es kannte ihre Bewegungen.
Seine Krallen ritzten ihre Flanke.
Blut spritzte auf den Schnee.
Ich schrie – rannte los – ohne Plan, ohne Macht.
Doch Raek packte mich.
> „NEIN!“, zischte er. „Du bist es, was es will! Wenn du fällst, fällt sie auch!“
Ich blieb stehen.
Wollte schreien, wollte rennen –
aber ich wusste, Raek hatte recht.
Fenris fiel.
Aber sie erhob sich wieder.
Blut tropfte von ihrer Schnauze.
Dann rief sie:
> „Kael!
Ruf den Namen!“
Welchen Namen?
In mir schrie etwas auf.
Etwas, das nicht menschlich war.
Nicht gelernt.
Nicht gedacht.
Nur… erinnert.
Ich öffnete den Mund – und rief:
> „THURAZ!“
Der Schatten erstarrte.
Wimmerte.
Verbog sich.
Dann...
… zerplatzte er.
Wie Rauch im Wind.
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Die Stille danach
Der See war still.
Das Eis zerbrochen, das Wasser blutgetränkt.
Fenris lag am Rand, verwundet.
Ich rannte zu ihr, kniete mich hin.
Sie atmete schwer, ihre Wunden schlossen sich langsam.
> „Du hast ihn gerufen“, flüsterte sie. „Nicht seinen Namen –
deinen.“
„Was… war das?“, fragte ich.
> „Ein Echo deiner Blutlinie.
Etwas, das auf dich gewartet hat.
Nicht um dich zu töten.
Sondern um dich zu prüfen.“
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Ein Moment zwischen uns
Später, in einer Höhle, die Raek für uns fand, saßen wir am Feuer.
Fenris war erschöpft.
Ich reinigte ihre Wunden.
Zum ersten Mal erlaubte sie mir, sie zu berühren, ohne dass sie sich spannte.
> „Ich dachte, du würdest sterben“, flüsterte ich.
Sie antwortete nicht.
Dann sagte sie:
> „Ich hätte es beinahe getan.
Aber du hast mich gerufen.
Nicht mit Stimme.
Mit… deinem Wesen.“
Ich legte meine Stirn an ihre.
Ihr Atem war warm.
Ihr Herzschlag langsam.
> „Ich will nicht, dass du mich beschützt, weil du musst.
Sondern weil du willst.“
Sie sah mich an.
Lange.
Dann:
> „Ich bin Alpha.
Aber heute...
… warst du mein Rudel.“
Wir blieben so liegen.
Kein Kuss.
Kein Fleisch.
Nur Nähe.
Nur wir.
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