Die vergessene Blutlinie

Der Rückweg vom gefrorenen See verlief schweigend.

Nicht, weil es nichts zu sagen gab.

Sondern weil jedes Wort zu viel gewesen wäre –

zu schwer, zu heilig, zu gefährlich.

Raek lief voraus. Immer wieder sah er sich um, als erwarte er einen weiteren Angriff.

Fenris hielt sich dicht bei mir, ging aber leicht hinkend. Ihre Wunde an der Seite war tief, doch sie ließ sich nichts anmerken. Ich wollte sie stützen, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf.

> „Wenn du mich hältst, hält es mich auf.“

Ich verstand. Und ließ es. Aber mein Blick blieb auf ihr, wachsam.

Ich hatte Angst. Nicht vor dem Schatten. Nicht einmal vor dem, was unter dem Eis geschlafen hatte.

Ich hatte Angst, was in mir erwacht war.

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Die Höhle

Wir erreichten eine schmale Felsspalte, verborgen hinter moosbedeckten Felsen. Raek führte uns hinein. Ein natürlicher Gang, dann eine kleine Kammer – geschützt vor Wind und Blick.

Fenris ließ sich nieder, lehnte sich gegen das Gestein und schloss die Augen.

Ich kniete mich neben sie, nahm ihre Hand. Sie war kalt.

> „Du zitterst.“

„Das bin nicht ich.“

Ich sah sie fragend an.

> „Es ist der Ruf.

Der, der dich findet…

erinnert auch mich an Dinge, die ich vergessen wollte.“

> „Was meinst du?“

> „Es gibt Linien, Kael. Blutlinien. Alte. Verlorene.

Nicht alle von ihnen waren… gut.“

Sie öffnete langsam die Augen.

> „Dein Blut… erinnert mich an jemanden.“

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Der Name Yorund

In der Stille zwischen uns hallte ein Name, den sie nicht laut sagte.

Aber ich hörte ihn.

> Yorund.

Ich sprach ihn aus, ohne zu wissen, warum.

Fenris’ Augen weiteten sich.

Nicht erschrocken.

Nicht überrascht.

Sondern… bestätigt.

> „Du erinnerst dich“, sagte sie leise.

> „Nein…“ flüsterte ich.

„Aber etwas in mir... tut es.“

Sie senkte den Blick.

> „Er war ein Wandler.

Vor vielen Wintern.

Mein Gefährte. Für kurze Zeit.“

Mein Herz zog sich zusammen.

Eifersucht? Vielleicht.

Aber mehr war es das Gefühl, dass ich in eine Geschichte gerissen wurde, die nicht meine war.

Und doch in mir lebte.

> „Was wurde aus ihm?“

> „Er wurde… anders.

Etwas in ihm hat sich verändert.

Er begann zu jagen, nicht aus Hunger. Sondern aus… Sehnsucht.

Nach Blut. Nach Macht.

Ich habe ihn verstoßen.“

Sie schwieg.

> „Oder verloren.“

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In deinem Blut

Ich konnte ihre Gedanken spüren, noch bevor sie sie aussprach.

> „Du glaubst, ich bin wie er.“

Sie sah mich an, lange. Dann schüttelte sie den Kopf.

> „Nein.

Ich glaube, er hat etwas hinterlassen.

Und du bist das Ergebnis davon.

Aber du bist nicht er.“

Ich fühlte, wie mein Puls raste. Mein Blick verschwamm. Ich stand auf, trat weg von ihr, an den Rand der Höhle.

> „Du hast mir dein Blut gegeben“, sagte ich rau.

„Was, wenn es mein eigenes war, das… etwas geweckt hat?“

Hinter mir war nur Stille.

Dann hörte ich sie leise sagen:

> „Dann lernen wir, es zu bändigen.“

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Besuch in der Nacht

Ich schlief nicht.

Raek hielt draußen Wache, Fenris ruhte, aber ich saß wach am Feuer, mein Blick auf die Flammen gerichtet.

Dann knackte es.

Nicht von draußen.

Von tiefer drinnen.

Ich fuhr herum –

und da stand er.

Ein alter Mann.

Oder… ein sehr alter Wandler.

Seine Haut war wettergegerbt, sein Haar weiß, aber seine Haltung war gerade.

Seine Augen waren wie Eis – hellblau, durchdringend.

> „Du bist Kael“, sagte er. Nicht fragend, sondern wissend.

Ich stand auf, wappnete mich mit nichts als Worten.

„Und du?“

> „Yorund.“

Yorunds Rückkehr

Er trat näher ans Feuer.

Kein Laut. Keine Angst. Kein Zögern.

Als wäre er nie fort gewesen.

Fenris trat aus dem Schatten. Ihre Stimme klang angespannt, aber beherrscht:

> „Du solltest tot sein, Yorund.“

Er lächelte. Nicht freundlich.

> „Ich war nie ganz lebendig, Fenris. Du weißt das.“

> „Was willst du?“

Er sah mich an.

> „Nicht was ich will. Was er braucht.“

Ich ballte die Fäuste.

> „Und das wäre?“

> „Die Wahrheit.

Über sein Blut.

Und über das, was erwacht.“

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Die verborgene Linie

Yorund setzte sich. Als wäre es sein Feuer.

Ich stand starr, Fenris blieb neben mir, aber ich spürte, dass sie ihn jederzeit anspringen würde, wenn er sich falsch bewegte.

> „Kael.

Du bist kein Zufall.

Dein Blut ist ein Knotenpunkt. Eine Brücke.

Zwischen mir… und Fenris.“

Ich schluckte.

> „Ich bin nicht dein Sohn.“

Er nickte. „Nein.

Aber du bist von meinem Blut.

Eine Seitenlinie.

Eine Flucht aus meiner Schuld.“

Er sprach weiter:

> „Bevor ich fiel, gab ich mein Blut weiter. An einen Menschen.

Eine Frau.

Um vielleicht eines Tages wieder etwas Reines daraus wachsen zu sehen.“

> „Du meinst… meine Familie?“

> „Sie wussten es nie.

Aber in dir lebt der Splitter.

Die letzte Flamme.

Und sie wurde von Fenris’ Blut neu entfacht.“

Ich sah zu ihr.

Ihre Augen waren feucht – aber sie kämpfte es nieder.

> „Was will er?“, fragte ich sie leise.

> „Er will… wissen, ob es diesmal gut geht.“

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Der innere Riss

Plötzlich durchzuckte mich Schmerz.

Nicht körperlich –

sondern wie zwei Stimmen, die gleichzeitig in mir schrien.

Eine flüsterte:

> „Du bist wie er. Werde es.“

Die andere:

„Du bist du. Wähle selbst.“

Ich taumelte zurück, meine Fingernägel krümmten sich.

Ich sah, wie sie sich leicht verlängerten.

Zähne… schärfer.

Atem… schwerer.

Ich verwandelte mich –

nicht ganz.

Halb.

Fenris war bei mir.

Sie hielt mich.

Ihre Stirn gegen meine.

> „Du bist nicht er.“

Ich schnappte nach Luft.

Es war, als würde sich mein Inneres spalten –

doch Fenris war der Knoten, der mich hielt.

> „Ich will nicht werden wie er.“

> „Dann werde wie du.“

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Entscheidung

Ich trat aus dem Schatten zurück ans Feuer. Yorund saß noch immer dort.

> „Du hast dein Blut verschenkt. Ich trage es.

Aber was du aus Wut tatest –

das werde ich aus Liebe brechen.“

Yorund neigte leicht den Kopf.

> „Dann bist du besser als ich.“

Er stand auf. Langsam.

Fenris fixierte ihn, aber er machte keine Bewegung.

> „Ich wollte dich sehen. Ein letztes Mal.“

> „Was wirst du tun?“

> „Versuchen, zu sterben. Endlich.“

Dann wandte er sich um und ging.

Kein Laut. Kein Abschied.

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Ein neuer Schwur

Die Nacht senkte sich schwer über uns.

Das Feuer knisterte. Fenris saß dicht bei mir.

Wir sagten eine Weile nichts.

Dann legte sie ihre Hand auf meine.

> „Du hast ihn nicht verstoßen.

Du hast dich entschieden.

Das ist mehr als jeder Fluch.“

Ich drehte mich zu ihr.

> „Und wenn ich morgen wanke?

Wenn das Blut in mir flüstert, dass es leichter ist, zu hassen als zu lieben?“

Sie beugte sich zu mir, ihre Stirn an meine.

> „Dann werde ich da sein.

Um dich daran zu erinnern, wer du bist.

Nicht wer du warst.

Nicht wer er war.

Sondern wer du mit mir bist.“