Der Morgen nach unserer Vereinigung war still, aber nichts war mehr wie zuvor.
Fenris wirkte anders – weicher, aber nicht schwächer.
Ich fühlte mich vollständiger, als wäre endlich ein Knoten gelöst worden, den ich mein Leben lang mit mir herumgetragen hatte.
Doch in der Luft lag etwas.
Nicht sichtbar. Nicht hörbar.
Aber spürbar.
Wie Strom unter der Haut.
Raek wartete am Rand des Lagers, sein Blick war ernst.
> „Ihr habt es gespürt, nicht wahr?“
Fenris trat vor ihn, das Fell über der Schulter, das sie zuvor achtlos abgelegt hatte, wieder fest um sich geschlungen.
> „Ja. Sie wissen, dass er lebt.“
Ich trat neben sie.
> „Wer sind sie?“
Raek sah mich an, sein Blick kalt wie ein Nordfluss.
> „Andere Rudel. Andere Linien.
Nicht alle haben vergessen.
Manche haben gewartet.“
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Die erste Spur
Noch am selben Tag verließen wir das Lager.
Fenris wollte nicht warten, bis die Fremden uns fanden.
> „Wer zuerst sieht, entscheidet, wie man sich begegnet“, sagte sie.
Wir liefen in Stille. Kein Spiel, keine Gespräche.
Nur der Wald.
Und unsere Schritte.
Nach wenigen Kilometern blieb Raek abrupt stehen.
Er roch am Boden, an einem zerkratzten Baum.
Dann zeigte er auf eine Spur: riesige Pranken, tief eingesunken.
> „Vier Wölfe. Groß. Schnell.
Zwei Tage alt.
Sie sind nicht auf der Jagd.
Sie suchen.“
> „Mich“, sagte ich.
> „Nein“, murmelte Fenris.
„Sie suchen Macht.“
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Die Hürde des Rudels
Wir kehrten zurück, und am Rand des Lagers wartete bereits das halbe Rudel.
Nicht feindselig – aber neugierig, wachsam, fordernd.
Fenris trat in die Mitte.
> „Er ist einer von uns“, sagte sie laut.
„Nicht geboren.
Nicht gebunden.
Aber gewählt.“
Ein Raunen ging durch die Gruppe.
Ich spürte die Blicke auf meiner Haut wie Nadeln.
Aber ich wich nicht zurück.
Ein alter Wandler trat vor. Groß, knochig, mit einer Narbe über der Stirn.
Sein Name war Jorun, wie ich später erfuhr.
Sein Blick war nicht böse – aber schwer.
> „Hat er das Rudel verteidigt?“
Fenris nickte.
> „Er hat mich verteidigt.
Und was ich bin, ist das Rudel.“
Jorun trat näher an mich heran, musterte mich.
> „Und was bist du, Menschensohn?“
Ich antwortete ruhig:
> „Nicht mehr nur Mensch.
Aber auch kein Schatten.
Ich bin Kael.
Und ich wähle dieses Rudel.“
Er trat zurück. Dann ein Nicken.
Und das Rudel… senkte die Köpfe.
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Ein fremder Geruch
Am Abend, als das Feuer brannte und sich die Spannung löste, kam Lysa zu uns.
Ihre Stimme war flach.
> „Da ist jemand in der Nähe.
Kein Tier. Kein Mensch.
Er riecht nach… Eisen und Asche.“
Fenris erstarrte.
> „Isergrim.“
Ich sah sie an.
> „Wer ist das?“
> „Ein alter Feind.
Von vor meiner Zeit als Alpha.
Er wurde verbannt –
nicht, weil er zu schwach war,
sondern weil er nie genug bekam.“
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Der Späher
Ich wollte reden, einen Plan schmieden.
Doch Fenris war bereits in Bewegung.
Sie wollte ihn aufhalten, bevor er näher kam.
Ich folgte ihr.
Was wir fanden, war kein Krieger.
Nur ein Späher – jung, blutjung.
Sein Körper lag zerschmettert am Rand eines Hanges. Die Kehle durchgebissen.
Fenris kniete sich zu ihm.
Ihre Augen waren nicht kalt – sondern… traurig.
> „Er hat ihn geopfert, um zu zeigen, dass er uns schon beobachtet.“
Ich spürte es.
Nicht körperlich.
Aber tief.
Ein Blick, der durch Bäume drang.
Ein Wille, der sich nicht zeigte –
aber näher kam.
Der Ruf
Noch in derselben Nacht hörten wir ihn.
Kein Laut im eigentlichen Sinn –
aber ein Beben in den Knochen, ein Kribbeln unter der Haut.
Ein uralter, dunkler Ruf.
Er war kein Heulen.
Er war eine Ansage.
Fenris drehte den Kopf zum Nordhang.
> „Er will, dass du kommst.“
Ich spürte mein Herz schlagen.
Nicht aus Angst.
Sondern… weil ich wusste, dass es nicht mehr zurück ging.
> „Ich komme nicht, um mich zu beweisen.“
> „Nein“, sagte Fenris.
„Du kommst, um zu zeigen, dass du dich nicht versteckst.“
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Die Begegnung
Der Wind am Nordhang war schneidend.
Dort wartete er.
Isergrim.
Er war größer als ich erwartet hatte.
Schlank, aber zäh.
Sein Fell war rußgrau, mit alten Narben.
Seine Augen? Bernsteinfarben – aber kalt.
Ohne Seele.
Nur Gier.
Er trat aus dem Schatten, zwei Wandler bei sich.
> „Der Bastard zeigt sich.
Wie mutig.
Oder wie töricht.“
Fenris knurrte leise, blieb aber ruhig.
Ich trat einen Schritt vor.
> „Ich bin kein Bastard.
Ich bin gewählt.
Und ich fürchte dich nicht.“
> „Dann bist du dumm.“
Er lachte.
Dann warf er ein Messer in den Boden zwischen uns.
Alt. Krumm. Runenverziert.
> „Das ist dein Erbe, sagt man.
Zeig, ob du es tragen kannst.“
Ich trat vor.
Hob es auf.
Das Metall war kalt – aber es vibrierte.
Nicht bösartig.
Sondern… als wollte es wissen, ob ich würdig bin.
> „Ich kämpfe nicht, weil ich muss“, sagte ich.
„Sondern weil ich es wähle.“
Isergrim knurrte.
> „Dann zeig, was du bist.“
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Der Kampf
Er verwandelte sich mitten im Sprung.
Ein grauer Riese, schäumend, zähnefletschend.
Ich spürte, wie mein Körper reagierte –
nicht aus Panik,
sondern aus Klarheit.
Ich verwandelte mich ebenfalls.
Diesmal nicht in Teilen.
Sondern ganz.
Unser Zusammenprall war wie Donner.
Pfoten trafen Pfoten.
Zähne kreuzten sich.
Er war erfahrener.
Aber ich war wütender.
Nicht auf ihn –
auf das, was er mir nehmen wollte:
die Wahl, wer ich sein durfte.
Er riss mich nieder.
Doch ich rollte mich ab, schnappte nach seiner Kehle –
nicht um zu töten.
Nur, um ihn zu stoppen.
Fenris rief etwas –
ich verstand nur einen Teil:
> „Nicht aus Hass! Aus Würde!“
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Die Entscheidung
Ich hatte ihn.
Mein Maul an seinem Nacken.
Er blutete. Er keuchte.
Ein weiterer Biss – und er wäre tot.
> Aber ich tat es nicht.
Ich trat zurück.
Wandte mich von ihm ab.
Wieder Mensch.
> „Du bist nichts wert, wenn du nur aus Blut Macht ziehst.“
Er wollte aufspringen –
aber da waren Raek, Lysa, und fünf weitere Wölfe.
Fenris trat vor.
> „Er lebt, weil Kael es will.
Nicht, weil er schwach ist.
Und ihr alle habt es gesehen:
Das ist unsere Zukunft.“
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Das Rudel bekennt sich
Zurück im Lager war alles anders.
Kein Zögern mehr.
Keine Blicke voller Zweifel.
Die Wölfe verneigten sich, einer nach dem anderen.
Nicht als Unterwerfung.
Sondern als Zeichen von Respekt.
Fenris legte ihre Hand auf meine Schulter.
> „Du hast nicht getötet.
Und deshalb wirst du führen können.
Nicht als Alpha.
Noch nicht.
Aber als einer, dem man folgt.“
Ich sah sie an.
> „Ich will nicht führen.
Ich will nur frei sein.
Mit dir.“
> „Dann wirst du führen, ohne es zu merken.“