Kapitel 6 EISIGER BLICK

KIERANS SICHT

Der Duft von Seraphinas Blut verfolgte mich noch immer.

Ich konnte diese Szene nicht aus meinem Kopf verbannen – die heranstürmenden Abtrünnigen, Daniel in Sicherheit bei meinen Eltern, Celeste, die meinen Schutz brauchte, nachdem sie jahrelang das Kampftraining vernachlässigt hatte. Aber als diese Fangzähne auf Sera zuschnellten... als ihr Blut die Luft erfüllte, schwer vor Schmerz...

Mein Herz blieb stehen.

Jeder Alpha-Instinkt in mir brüllte, sie zu beschützen – meine Ex-Frau, die Mutter meines Sohnes, die Gefährtin, die ich nie öffentlich beansprucht hatte. Doch bevor ich mich bewegen konnte, mischte sich zuerst ein anderer Schatten ein.

Ich hätte dankbar sein sollen, als dieser Fremde die Abtrünnigen in Stücke riss. Hätte dem Mond danken sollen, als er Seras Leben rettete, bevor es zu spät war.

Aber als ich sah, wie er sich zurückverwandelte und sie an seine nackte Brust drückte, entfuhr meiner Kehle ein Knurren, bevor ich es unterdrücken konnte. Meine Eckzähne pochten, meine Augen färbten sich bernsteinfarben.

"Mein." Mein Wolf, Ashar, knurrte.

Das Wort war eine Lüge. Ich hatte kein Recht darauf. Nicht nach den Scheidungspapieren. Nicht nach einem Jahrzehnt, in dem ich ihr mein Zeichen verweigert hatte. Ihr den Titel der Luna verweigert hatte.

Was für ein Alpha beansprucht eine Gefährtin, die er nie wirklich beansprucht hat?

Warum also wollte ich beim Anblick seiner Hände an ihrer Taille diese verdammten Bäume mit seinen Eingeweiden bemalen?

"Wie geht es ihr?" Die Stimme meiner Mutter am Telefon holte mich in die Gegenwart zurück. "Daniel will es wissen."

Ich blickte auf die geschlossene Tür des Behandlungsraums in der Notaufnahme vor mir, während sich ein Cocktail ungewohnter Emotionen in meinem Magen zusammenbraute. Wie es ihr ging? Ich wusste es nicht. Ich hatte ihr zerfetztes Kleid gesehen, das Blut, das ihren Rücken hinunterlief, aber ich war nicht der Held, der sie gerettet hatte. Nicht einmal derjenige, der sie hierher gebracht hatte. Nur der nutzlose Ex-Ehemann, der auf Neuigkeiten wartete.

Noch keine Updates. Niemand war gekommen, um uns etwas mitzuteilen.

Sie musste am Leben sein. Sie musste einfach leben. Wie würde ich Daniel erklären, wenn Sera etwas Schlimmeres zugestoßen wäre? Wie würde ich rechtfertigen, dass ich eine andere Frau beschützt hatte, anstatt seine wehrlose, wolflose Mutter?

Selbsthass brannte in mir. Was auch immer zwischen Sera und mir vorgefallen war, Daniel zu verletzen war das Letzte, was wir wollten.

"Sie ist—"

Die Tür öffnete sich, und Seraphina trat heraus.

Ihre rechte Hand steckte in einer Schlinge, Verbände lugten unter dem hochgerollten Ärmel ihres Hemdes hervor. Da sie keinen Wolf hatte, würde sie nicht so schnell heilen können wie Werwölfe.

Der Gedanke, dass sie den Schmerz ertragen und mit der Verletzung wie mit einer alltäglichen Aufgabe umgehen musste, gab mir ein unbehagliches, nagendes Gefühl.

Ihr Kopf war nach innen gedreht, lächelnd zu wem auch immer im Raum war – einem Arzt oder einer Krankenschwester. "Danke... werde ich... Ja." Dann drehte sie sich um, und unsere Blicke trafen sich.

Ich hatte immer gedacht, dass Seraphina wunderschöne Augen hatte – grüne Sprenkel, die im Blau wirbelten, wie Fische in einem azurblauen Meer. Zehn lange Jahre lang hatte ich es bewusst vermieden, zu tief in sie hineinzuschauen. Hatte mich geweigert, die Hingabe anzuerkennen, die einst in ihren Tiefen schimmerte.

Ich redete mir ein, ich könnte nicht vergessen, dass sie die Frau war, die mein Leben ruiniert hatte. Konnte mich nicht wieder dieser gefährlichen Anziehungskraft hingeben und meine Liebe zu Celeste verraten. Aber jetzt, als ich sah, wie mich dieselben Augen mit nichts als eisiger Gleichgültigkeit betrachteten, zog sich mein Herz zusammen.

Ihr Lächeln verschwand. Es war, als wäre dieses Meer zugefroren, und da war nichts – nicht einmal Wut, weil ich sie nicht beschützt hatte – nur eisige Betrachtung.

"Sera!"

Ich hatte Margaret neben mir fast vergessen. Sie hatte in der Ecke gesessen und still zur Mondgöttin gebetet, seit sie Sera hereingerollt hatten. Zwei Krankenhausbesuche in einer Woche – ich bezweifelte, dass sie den Verlust eines weiteren Familienmitglieds verkraften könnte.

Sobald sie Sera herauskommen sah, sprang sie auf und eilte auf ihre Tochter zu. Sera unterbrach unseren Blickkontakt, um ihre Mutter anzusehen, ihre Augenbrauen leicht zusammengezogen.

"Oh, Liebling, sieh dich an." Margarets Stimme zitterte, als sie nach Seras Verletzungen griff.

"Entschuldigung," Sera trat zurück und ließ die Hände ihrer Mutter in der Luft hängen. "Wen rufst du da? Das kann nicht ich sein."

"Wenn du nach deinem Liebling suchst—" Ihr Blick glitt an Margaret vorbei zu Ethan und Celeste, "—sie steht direkt hinter dir."

"Sera!" Ethan unterbrach sie, sein Alpha-Ton scharf vor Missbilligung. "Mutter ist nur besorgt. Was haben die Ärzte gesagt?"

"Seit wann interessiert euch mein Überleben?" Das Eis in ihrer Stimme war wie ein Messerstich in die Brust. Das war nicht die Sera, die ich kannte. Die Frau, die sich einst an unsere seltene Freundlichkeit wie an Sonnenlicht geklammert hatte, die sich in alles verwandelt hatte, was ihr einen Fetzen unserer Zuneigung einbringen könnte.

"Die Ärzte sagen, ich werde überleben," fuhr sie fort, ihr eisiger Blick streifte mich. "Aber andererseits..." Ein kaltes Lächeln. "Wen kümmert schon ein entbehrliches Niemand, solange die wichtigen Leute in Sicherheit sind?"

"Das ist nicht—"

"Wo ist mein Sohn?" Sie unterbrach Margaret und wandte sich mir mit Augen zu, die all ihre frühere Zärtlichkeit verloren hatten. Als wäre ich jetzt nur noch ein Fremder für sie.

"Zu Hause," antwortete ich steif. "Bei meinen Eltern."

"Ich werde ihn holen." Sie nickte kurz, bevor sie zum Ausgang ging.

"Warte—" Meine Hand schoss vor und packte ihr Handgelenk. "Daniel ist sicher, wo er ist. Du bist in keinem Zustand, dich jetzt um ihn zu kümmern."

Ihr Blick fiel auf die Stelle, wo meine Finger ihren Arm umschlossen, die Stirn runzelnd. Ich ließ sie los, blockierte aber ihren Weg.

"Die Abtrünnigen, die heute angegriffen haben, sind wahrscheinlich dieselben, die deinen Vater ins Visier genommen haben. Das war kein Zufall, Sera. Sie jagen systematisch die Mitglieder des Frostbann-Rudels und versuchen zu—"

"Was hat das mit mir zu tun?"

Das Eis in ihrer Stimme ließ den Raum kollektiv einatmen.

"Um Himmels willen, Sera!" schnappte Ethan. "Bist du wirklich so begriffsstutzig? Du bist in Gefahr!"

"Ich habe vor Jahren aufgehört, ein Mitglied des Frostbann-Rudels zu sein." Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb. "Das bedeutet, ich bin sicher."

"Sera, hör zu—" Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare, Frustration stieg in mir auf.

"Und ich gehöre auch nicht zu deinem Rudel." Sie trat näher, ihre Augen glänzten wie Diamantsplitter. "Ist das ein neuer Trick, um mir Daniel wegzunehmen?"

"Was?" Ich sah sie ungläubig an.

"Dann verstehe ich nicht, warum ihr alle hier steht und versucht, mich davon abzuhalten, mein Kind zu holen."

"Hast du den Verstand verloren, Sera?" rief Margaret aus.

"Ich habe euch gegeben, was ihr wolltet." Ein Achselzucken, vorgetäuschte Gleichgültigkeit. "Die Scheidung ist unterschrieben. Ich bin ausgezogen. Die Beerdigung ist vorbei. Es gibt keinen Grund, warum wir weiter reden sollten."

Mein Kiefer spannte sich an. "Sera, das ist nicht—"

"Versuch, Daniel zu nehmen," sie fixierte meine Augen, ein Versprechen, geschärft bis zur tödlichen Kante, "und du wirst lernen, wie scharf meine Zähne sind – mit oder ohne Wolf."

Ich atmete durch die Nase aus. "Lass mich dich fahren."

Sera erstarrte. Celeste auch – ich spürte ihren Blick, der sich in meinen Rücken bohrte.

Scheiße. Ich zwang meine Gesichtszüge in etwas Kälteres. "Dein Auto steht noch auf dem Friedhof. Geschieden oder nicht, du bist immer noch die Mutter meines Sohnes. Das macht dich zu meiner Verantwortung."

"Nein." Ihr Lachen war bitter wie Eisenhut. "Du hast meinen Standpunkt bereits bewiesen. Selbst wenn du direkt neben mir stehst, wählst du mich nicht. Ich werde meine Sicherheit nicht jemandem anvertrauen, der mich seit einem Jahrzehnt verachtet."

"Sera." Die Warnung in meiner Stimme hätte sie zusammenzucken lassen müssen.

Sie zögerte nicht einmal. Sie ging einfach hinaus.

Und verdammt, wenn sich das nicht wie eine Silberkugel in der Brust anfühlte.

Sera war eine Viper. Ihre Distanz hätte eine Erleichterung sein sollen.

Warum also ließ mich die Grenze, die sie zwischen uns gezogen hatte, die ganze verdammte Welt in Stücke reißen wollen?

Celestes Berührung erschreckte mich. "Das ist nur... vorübergehend, oder?" Ihre Finger zitterten an meinem Arm. "Wir müssen das nicht weiter durchmachen?"

Ich zwang meine Aufmerksamkeit zurück zu ihr – zu der Frau, die ich jahrelang geliebt hatte. Meine rechtmäßige zukünftige Luna.

"Nichts ändert sich." Ich bedeckte ihre Hand mit meiner und drückte sie. "Du wirst immer an erster Stelle stehen."

"Kieran," schluchzte sie an meiner Brust, "jetzt, wo Vater nicht mehr da ist, fühle ich mich – ich fühle mich nicht sicher. Ich brauche dich."

"Ich bin für dich da," murmelte ich und zog sie näher. "Niemand wird uns wieder auseinanderreißen."

Celeste schmiegte sich tiefer in meine Umarmung, ihre Tränen durchnässten mein Hemd. Doch mein verräterischer Blick wanderte immer wieder zu diesem leeren Ausgang, durch den Sera verschwunden war.

Das Unbehagen wand sich in meinem Bauch.

Warum?